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Berlin
HOCHGESCHWINDIGKEIT ODER ZEITLUPE
Halbzeit beim Berliner Tanz im August
Thematische und stilistische Vielfalt bestimmte den Mittelteil von „Tanz im August“, auch die künstlerische Umsetzung klaffte weit auseinander. Als Höhepunkt des Jubiläumsprogramms darf man getrost das Gastspiel der mittlerweile weltweit gefeierten Company Wayne McGregor aus England ansehen. Ihr Namensgeber, 1970 geboren, studierte Choreografie und Semiotik in Leeds und Limón-Technik in New York. In den Stücken für seine schon 1992 formierte Company Random Dance untersuchte er immer wieder den Zusammenhang von Wissenschaften wie Genetik oder Robotik und Tanz. Kreationen entstanden darüber hinaus für renommierte Ensembles von Australien bis New York, Europa einbeschlossen. Sein forschendes Interesse richtet sich auch auf künstliche Intelligenz oder Koordinationsstörungen, umfasst die Arbeit an Musikvideos und die Choreografie für eine Folge der „Harry Potter“-Serie. Seit 2006 war er Resident Choreographer beim Royal Ballet London, gestattete sich aber ebenso Ausflüge in die Modebranche. Dass er in seinem tänzerischen Radikalansatz von William Forsythes Bewegungsdekonstruktion inspiriert ist, liegt nahe und hat zu einer eigenständigen choreografischen Ausdrucksweise geführt.
In „Autobiography“ wagt er den Versuch einer Selbstbefragung und lässt darin 25 Jahre seines Berufslebens Revue passieren. Freilich erwartet niemand von ihm eine getanzte Biografie mit festen Stationen. Vielmehr lässt McGregor 80 Minuten lang am Zuschauer ein rasantes Kaleidoskop an Episoden vorüberziehen, die jeder für sich zu persönlichen Aussagen zusammenpuzzeln kann. Das Ergebnis ist ein überwältigendes choreografisches Konstrukt, souverän im Wechsel der Dynamiken und Stimmungen, brillant in Jlins elektronischer Musikcollage und Lucy Carters Lichtkonzept, überbordend erfinderisch - und atemverschlagend getanzt von den zehn bravourösen, handverlesen ausgesuchten Mitgliedern der Company.
Auf der nebelverhangenen Bühne im Haus der Berliner Festspiele tanzt ein Mann virtuos allein. Zu schroffen Streichern nimmt die Gruppe den Faden auf, ungemein wendig, mit rasenden Drehungen und Spreizungen, bei denen die Körperachse beständig kippt. Extrem leichtfüßig und nirgendwo hektisch wirkt, was dem Körper an Technik in fliegendem Tempo abgerungen wird. Über der Szene hängen spitze Dreieckformen, die sich bisweilen absenken, als wollten sie die Tänzer aufspießen; Strahler von oben oder der Seite verstärken den atmosphärischen Sog des Tanzes. Um flüchtige Momente der Gemeinsamkeit geht es darin, um Anziehung und Abstoßen, Zärtlichkeit und Hingabe, die rasch von Bewegungsemsigkeit geschluckt werden. McGregors Marathon durchs Leben kulminiert in einem Männerduett, bei dem die Zeit zu verhalten scheint, vielleicht mehr Vision als Realität, und dem erneut Hochgeschwindigkeitstanz folgt. Fließend und ohne Ecken ereignet er sich, elegant geradezu, hat keinerlei Raum für Sentimentalität, wohl aber für vielfältige Emotionen, bis hin zum Angstschrei. Am Ende, einem Plädoyer für die Liebe im Allgemeinen, ungeachtet ihrer sexuellen Polung, verabschieden sich die Partner voneinander; im Solo bleibt diesmal eine Frau allein zurück, nicht im Nebel des Beginns, transzendiert aber vom Licht. Grandios.
Ganz gegensätzlich lässt die Belgierin Lisbeth Gruwez in „The Sea Within“ die zehn Tänzerinnen unterschiedlichen Typs ihrer Gruppe Voetvolk demonstrativ langsam agieren. Diese Frauenwelt pendelt zwischen Isoliertsein und Gemeinschaftsempfinden, wird zur Gesamtskulptur pulsender Schlinggewächse im Meer, bricht auseinander, steigert sich zu kämpferischer Ekstase, befeuert von Maarten Van Cauwenberghes anschwellendem Klangdonner - um sich in gemeinsamem Summen und derwischhaften Solodrehern in einer verklammerten Harmonie zu finden. Noch reduzierter und formstrenger geht die Berliner Choreografin Isabelle Schad zu Werke. Unter dem Titel „Inside Out“ war ihr im KINDL-Zentrum auf mehreren Etagen eine umfangreiche Werkschau gewidmet, die durch die Konzentration auf die reine Bewegung im Bodenkontakt von Paaren oder im Raum bestach.
Enttäuschend hingegen zwei Gastspiele aus Afrika. Ging das im Boxring angelegte Vater-Porträt von Nora Chipaumire aus Simbabwe in Lautstärke unter, so strandete die Südafrikanerin Robyn Orlin mit ihrer Attacke auf den Sonnenkönig Ludwig XIV. und seinen Code Noir von 1685, ein zutiefst rassistisches Dekret zum Umgang mit schwarzen Sklaven, im seichten Entertainment. Schade.
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