Pas de deux aus „Herman Schmerman“ von William Forsythe, Tanz: Polina Semionova und Friedemann Vogel

Große Gala

Viel Dank für Reid Anderson in Stuttgart

Nach 22 Jahren als Intendant des Stuttgarter Balletts übergibt Reid Anderson den Stab an seinen Nachfolger Tamas Detrich, das ist eine große Gala wert: Danke Reid!

Stuttgart, 26/07/2018

Zählt man die Etüden der Schülerinnen und Schüler der Stuttgarter John Cranko Schule, das von Tamas Detrich choreografierte Defilee am Beginn sowie am Ende seine Broadwayshow für das ganze Ensemble „A Chorus Line“ mit, dann gab es in den über fünf Stunden dieser Mega-Gala 22 Beiträge, von denen man keinen missen möchte.
Das macht Sinn, denn Detrichs Konzept bei dieser Auswahl der Beiträge bezieht sich auf die 22 Jahre der Intendanz von Reid Anderson. Und auf jeweils fünf Uraufführungen, Erstaufführungen und Wiederaufnahmen, die Anderson verantwortete. Hinzu kommen Ausschnitte aus Choreografien, in denen er selbst getanzt hat und solche, die für ihn kreiert wurden in seiner Zeit als Tänzer des Stuttgarter Balletts. Bis es aber soweit ist, folgten nach den hoffnungsvollen Kostproben des Nachwuchses und dem Defilee der ganzen Kompanie erst einmal Reden. Lange Reden. Ausführlich würdigte Ministerpräsident Winfried Kretschmann Andersons Verdienste, seine Art die Traditionen zu bewahren und dennoch nicht in museale Sackgassen zu geraten. Er würdigt den Mut zum Risiko, immerhin, wo gibt es das sonst, mit weit über 100 Uraufführungen in seiner Zeit als Intendant dürfte Reid Anderson schon eine Sonderstellung unter seinen Kolleginnen und Kollegen einnehmen. Der Dank wird vergoldet, er erhält die höchste Auszeichnung des Landes Baden-Württemberg, die Staufermedaille in Gold.

Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn verwies mit Hegel auf die kreative Dialektik und die Korrespondenzen zwischen Erbe und Erneuerung, zitiert dann den Heiligen Franziskus, dem zugeschrieben wird, dass er den Menschen geraten habe, tanzen zu lernen, denn sonst wüssten die Engel im Himmel nichts mit ihnen anzufangen. Stuttgarts einstiger Star, die Tänzerin Marcia Haydée war eigentlich mit einer Laudatio angekündigt, sie verlor sich aber in Anekdoten.

Also galt es lange darauf zu warten, bis sich der Tanzhimmel im Stuttgarter Opernhaus öffnete, mit dem von Hyo-Jung Kang und Jason Reilly getanzten Pas de deux aus John Crankos „Romeo und Julia“. Eine Erinnerung an die Wiederaufnahme dieser Kreation, mit der einst das Stuttgarter Ballett seinen Weltruhm begründete, zum Auftakt der Intendanz von Reid Anderson in der Saison 1996/1997.

Von Cranko gibt es natürlich mit Elisa Badenes und dem gerne als Gast begrüßten einstigen ersten Solisten der Kompanie, Daniel Camargo, einen Ausschnitt aus „Der Widerspenstigen Zähmung“ und am Ende der Gala, den Pas de deux aus „Onegin“, als zutiefst bewegende Abschiedsszene mit Alicia Amatriain und Friedemann Vogel. Alicia Amatriain tanzt auch die Rolle der Kameliendame in der Szene mit Monsieur Duval, die vor 40 Jahren von John Neumeier für Reid Anderson kreiert worden war. Jetzt gibt Roman Novitzky sein Rollendebüt.
In der Saison 2007/2008 wurde in Stuttgart das 1985 in Hamburg uraufgeführte Ballett „Othello“ von John Neumeier erstmals einstudiert. In der Abschiedsgala für Reid Anderson tanzen Anna Laudere, als Gast vom Hamburg Ballett, und Jason Reilly das berühmte Duett zur sensiblen Musik von Arvo Pärt. An Uwe Scholz, dessen Weg von John Cranko und Marcia Haydée befördert, in Stuttgart begann, der mit 46 Jahren 2004 so jung verstarb, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiern würde, erinnert das Trio aus „Suite“. Ein Klassiker wie „Giselle“ darf nicht fehlen.

Aus der Inszenierung von Reid Anderson und Valentina Savina, aus der Saison 1998/1999 tanzen mit so berührender wie anmutiger Technik Miriam Kacerova und David Moore den Pas de deux aus dem zweiten Akt. Moore tanzt auch einen Ausschnitt aus Demis Volpis „Krabat“, das Solo mit dem Mantel, gemeinsam mit Lois Stins. Demis Volpi war Hauschoreograf in der Zeit der Intendanz Andersons ebenso wie Marco Goecke, aus dessen hier uraufgeführtem Ballett „Orlando“ Friedmann Vogel das finale Solo zeigte.
Friedemann Vogel und Polina Semionova, sie als Gast in dieser Gala, zeigen das lässige, witzige Duo „Herman Schmerman“ von William Forsythe, bei dem der Tänzer schon zu einer Konkurrenz für die Tänzerin werden kann, wenn er sich entschließt, eben auch im knappen, wippenden Röckchen zu tanzen. Wenn es schon gelungen ist, Daniel Camargo für diese Gala zu verpflichten, dann muss er auch mit Elisa Badenes den Pas de deux aus „Don Quixote“ tanzen in der Stuttgarter Inszenierung von Maximiliano Guerra nach Marius Petipa, zur Freude des Publikums, ein Genuss der Spitzenklasse. Erinnert wird mit einem Pas de deux aus „Rückkehr in ein Fremdes Land“ an Jiří Kylián, der von Stuttgart aus als einer der bis heute bedeutendsten Choreografen die Ballettwelt eroberte.
In Deutschland ist er weniger bekannt, in England kennt man ihn, den Choreografen David Bintley. Reid Anderson brachte dessen selten zu erlebende Kreation „Edward II“ wieder auf die Bühne, auf der Gala tanzten daraus Alicia Amatriain und Roman Novitzky eine Szene. Mauro Bigonzettis „I Fratelli – Die Brüder“ wurde in der Spielzeit 2006/2007 in Stuttgart uraufgeführt, für einen Ausschnitt freute man sich über das Wiedersehen mit Marijin Rademaker, der den Pas de deux mit Miriam Kacerova auf die Bühne brachte. Rademaker tanzte auch, jetzt mit Anna Osadcenko, eine Szene aus Hans van Manens „Two Pieces fpr HET“.
Nicht immer erschließen sich kurze Ausschnitte im Hinblick auf ein ganzes Werk, zudem, wenn es sich um eine eher nicht so bekannte Kreation handelt wie Kenneth McMillans „Requiem“ zur Musik von Gabriel Fauré. Weil er aber 1976 den „Sanctus – Pas de deux“ für Marcia Haydée und Reid Anderson kreierte, macht es in dieser Gala Sinn, wenn Hyo-Jung Kang und Martí Fernández Paixà mit ihren Rollendebüts daran erinnern.
Auch der Spaß kommt nicht zu kurz, Christian Spuck, einst Hauschoreograf in Stuttgart, jetzt Ballettdirektor und Chefchoreograf in Zürich, war mit drei Beiträgen vertreten. Es gab einen Ausschnitt aus „Das Siebte Blau“ und aus seinem gerade wieder aufgenommenen Ballett „Lulu. Eine Monstertragödie“. Und natürlich seinen 'Reißer', „Le Grand Pas de Deux“ zu Rossinis Ouvertüre zur Oper „La gazza ladra“ (Die diebische Elster). Spitzenmäßig, temperamentvoll und mit großem Können bei diesem anspruchsvollen Ballettspaß begeisterten Elisa Badenes und Jason Reilly das Publikum. Und dann hielt es auch den Intendanten selbst an seinem letzten Arbeitstag nicht mehr, er schwang und wippte und tanzte inmitten des Silberglitzers des Broadwayfinales in der Choreografie seines Nachfolgers Tamas Detrich. Wenn das kein gutes Zeichen ist.
Keine Frage, dieser Mann hat seinen Traum gelebt, wie er in einem Interview sagt, und dass er glücklich und zufrieden ist, das sieht man. Und gemessen an der Reaktion des Publikums, feiert auch hier das Glück ein rauschendes Finale mit den wie sonst kaum in einer anderen Stadt geliebten Tänzerinnen und Tänzern des Stuttgarter Balletts.

 

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