„volto umano“ von Toula Limnaios. Tanz: Leonardo d’Aquino, Alessio Scandale, Karolina Wyrwal, Daniel Afonso, Priscilla Fiuza, Alba de Miguel, Hironori Sugata und Katja Scholz (v.l.n.r.)

„volto umano“ von Toula Limnaios. Tanz: Leonardo d’Aquino, Alessio Scandale, Karolina Wyrwal, Daniel Afonso, Priscilla Fiuza, Alba de Miguel, Hironori Sugata und Katja Scholz (v.l.n.r.)

Beklemmender Untergangsexzess

Toula Limnaios entlarvt in „volto umano“ das menschliche Gesicht

In der Halle Tanzbühne Berlin wird eine düstere Zukunft des Menschen und seiner sozialen Kompetenzen vorausgesagt.

Berlin, 25/06/2018

Noch ist die Welt in Ordnung, als über die Szene der Halle Tanzbühne Berlin sechs Tänzer*innen verteilt auf den Knien hocken und einer in der Mitte auf einem Stuhl sitzt. Nur die deckenhohe Schichtung liegender Puppen im Hintergrund irritiert bereits. Knisternd scheinen die Hockenden zu essen, als unten aus dem Berg eine halbnackte Frau quillt. Es ist offenbar noch Leben in dieser Öde. Den Sitzenden will sie erobern, besteigt, erklimmt ihn, doch der mag keinen Kontakt, erhebt sich und wird vom Sechserpulk wie ein Aussätziger beobachtet, sinkt und sackt, bis er sich der Menge einverleibt. Dunkle Anzüge tragen sie alle und ein schmückendes Halsband. Die im Slip agiert allein weiter auf dem Stuhl. Dezenter Klang begleitet sie; die Bewegung der Gruppe aber ist eher hektisch, fahrig, reich an Wendungen im Raum und strangulierendem Drehen der Hände. Ein Mann fasst der Frau, die willenlos vor ihm steht, ans Genital, hebt und dirigiert sie.

Es ist eine mechanisierte Welt, die Toula Limnaios und ihre Kompanie in „volto humano“ vorführen. In lauernder Atmosphäre leben sich ruckhaft Individuen aus; Glück und Harmonie sucht man vergebens in diesen schroffen Bildern. Frauen blasen in Plastiktüten und den Blasrhythmus geben andere per Megaphon vor. Aus dem Puppenberg drängt ein Mann im Slip hervor, probt den Stand, spiralt sich immer wieder zu Boden, robbt tierhaft, wellt und wölbt den Körper. Eine Frau buhlt um ihn, springt ihn an, hängt sich an ihn. Eine Frau in Pumps legt alle am vermeintlich schmückenden Halsband an die Leine, die Meute von Hunden kriecht ihr nach und befreit sich erst, als die Frau in einem wassergefüllten Teller zappelnd fast erstickt, nebenher mit dem Schuh telefoniert.

Verstörende Bilder sind das, die sich nicht immer erschließen, indes auf etwas hinarbeiten. Als sich die Menschen in Kämpfen verstricken, übereinander klettern, das Gegenüber zu demütigen und zu dominieren beginnen, den anderen wie eine Marionette aufziehen, damit er funktioniert, ahnt man: Es ist keine gute Welt, die Limnaios hier physisch überaus fordernd beschreibt. Eine Frau im Slip wird von einem Mann an ihrem langen Haar wie eine Puppe geführt, scheint vollkommen manipuliert, auch als sie wie ein lebloses Gewicht auf einem Liegenden lastet, der deshalb kaum seinen Text sprechen an. Mit Hebekaskaden und Schwebeschleudern führt der Mann die Langhaarige vor, lässt sie dann hinterm Puppenberg verschwinden. Doch es kommt noch schlimmer. Menschen in ihren Anzügen werden wie Kleiderbügel ausgebreitet, zwei Frauen kneten ihr Fleisch, als suchten sie im Schlankheitswahn nach Fettpolstern. Egoismus und Quälerei kennzeichnen eine selbstläufige, selbstbezügliche Gesellschaft vor dem Abgesang. Trump geifert vom Band, eine Halbnackte mit rosafarbener Puschel suhlt sich auf ihrer rollenden humanen Unterlage, dann auf der entblößt wogenden Menge, derweil sie in ihr Schuh-Mikro den Skandalsong „Je t‘aime … moi non plus“ haucht: Glamour übertüncht seelische Leere.

Zum Finale erreicht der Taumel seinen Höhepunkt. Die Menschen verlieren sich im Schnüffeln an Plastiktüten, der einzige angezogene Mann führt sie nacheinander wie der Tod zu Boden. Die Welt erschöpft sich im seligen Sex- und Drogenrausch, und auch dem Mann bleibt als „Partner“ nur noch eine Puppe, die er menschenähnlich umarmt, trägt und krabbeln lässt. Als er sich mit ihr im Tanz dreht, die anderen in stabiler Seitenlage verharren, schluckt das Dunkel die mit Kleidung und Tüten bedeckte Szene.

Lange braucht es, just bis zu diesem Untergangsexzess, ehe man Toula Limnaios‘ Absicht erkennt. Es ist eine zutiefst düstere Vision, die sie vom Gesicht des Menschen und seinen sozialen Kompetenzen entwirft, und dies in einer unorthodoxen, keiner Stilistik verpflichteten choreografischen Sprache. Ihr Tänzeroktett von Langbewährten wie Katja Scholz und Hironori Sugata bis zu Alessio Scandale als Neuzugang bringt sich engagiert ein und wird von Ralf R. Ollertz‘ elektronischer Collage sicher durch den beeindruckenden, einstündigen Abend getragen.

 

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