„Crowd“ von Gisèle Vienne

Interferenzmuster

Gisèle Viennes „Crowd“ bei den Wiener Festwochen

Bei „Crowd“ scheint die Betonung des individuellen Anspruch-Erhebens ihre gelungene Entsprechung gefunden zu haben. Vienne arrangiert einen Rave in Zeitlupe auf dem von Erde bedeckten und zugemüllten Boden der Gösserhallen.

Wien, 05/06/2018

Das Bild des ruhigen Teiches ist eine Standardmetapher, um konzentrische Konsequenzmuster zu beschreiben: Werfen wir einen Kieselstein in den Teich, so beobachten wir die kreisförmige Ausbreitung von dessen Eintauchpunkt aus. Werfen wir aber mehr als einen Kiesel in diesen Teich, so finden Überschneidungen statt, entsteht ein Interferenzmuster, bei dem die Beeinflussung der aufeinandertreffenden Wellenkämme anhand der Intensität des Wurfes, der Größe und Schwere des Steines beobachtet werden kann. Bei diesen Beobachtungen wird demnach klar, dass die erst egalitär erscheinende Teichoberfläche maßgeblich durch die individuelle Behauptung der singulär geworfenen Steine beeinflusst wird.
Bei Gisèle Viennes „Crowd“, das auf den Wiener Festwochen seine österreichische Premiere feierte, scheint diese Betonung des individuellen Anspruch-Erhebens ihre gelungene Entsprechung gefunden zu haben. Vienne arrangiert einen Rave in Zeitlupe auf dem von Erde bedeckten und zugemüllten Boden der Wiener Gösserhallen. Schon der Auftritt der Tänzer*innen ist singulär: erst Eine, dann immer mehr, als Menge erscheinend, nehmen den Raum in Anspruch. Zuerst sammeln sie sich, um dann in ekstatisches Gliederwerfen zu verfallen, sich im bereiteten Erdkasten zu reiben – jedoch jeglich in der von Zeitlupe beschriebenen Langsamkeit. Es wird getanzt, geweint, geraucht, geprügelt, geküsst und überkonsumiert. Bierdosen verspritzen ihren Inhalt und Chipstüten entladen sich über Häuptern.
Bis auf eine beinah surreale Stelle in „Crowd“, in der sich die Tänzer*innen kurzzeitig einem gemeinsamen, synchronen Choreografiemotiv unterwerfen, wandelt sich dieses Vermengen der Körper doch nie zur Masse, in der der Einzelne untergeht. Es gibt auf dieser festivalreminiszenten Tanzfläche nichts egalitäres, sondern nur individuelle Verwirklichung. Jeder sucht auf seine Weise die Nähe, die Reibung und wieder die Distanz. Doch immer nur einzelne, erzählerisch bevorzugte Charaktere schälen sich mehrmals aus dem Gefüge und werden teils bewusst von der Lichtregie ausgeleuchtet. Gerade mit den individuellen Bewegungsgeschwindigkeiten der Akteur*innen weiß Vienne konkret und inszenatorisch präzise umzugehen, um diese Unterscheidungen und narrativen Impulsgeber zu betonen und dazu dem knapp zweistündigen Abend zu einer durchgehend spannungsreichen Dynamik zu verhelfen. Die singularisierten und sich in diversen Tempi befindenden Charaktere gestalten und formen so die Ansicht der Menge. Am intensivsten ist das wahrzunehmen, wenn gegen Ende des Raves ein junger Mann einem anderen jungen Mann, vor den Augen von dessen Freundin, auf den Leib rückt und eine sexuelle Übergriffigkeit herrscht, die den Akt der Betrachtung bedrückend endlos erscheinen lässt. Und auch diese Szene schwappt über in die anderen Impulswellen, verebbt oder verstärkt sich in deren Resonanzrahmen.
Inwiefern darf man jedoch den individuellen Narrativen folgen? Als Grundlage, die immer wieder im Spiel der Zeitdynamiken gebrochen wird, generieren sie die intimen Verhaltens- und Begegnungsschnappschüsse, die Mittel der abstrakteren Körper- und Bewegungsstudie sind. Der Bergriff „tableau vivant“ ist dort schnell im Sinn. Doch für sich gesehen bleiben diese der Festival- und Ravesphäre entnommenen Charaktere oft leider nicht mehr als deren bloße Stereotypisierungen. Auch die zeitgenössische Aneignung von 90er Jahre Musikgut und dem entsprechenden Kleidungsstil lassen offen, ob dem rahmenden, figurativen Narrativ beim Betrachten nur mit einem ironischen Schmunzeln beizukommen ist.
Am Ende zieht der Großteil der erschöpften Menge ab und hinterlässt wieder singulär Verstreutes: neben Kleidungsstücken, Rucksäcken und noch weiter angereichten Müllansammlungen finden sich Einzelne, die in diesem Konsum hängen geblieben sind oder ihn noch aufzuarbeiten haben – der eine räumt auf, der andere hält sich kaum am Stehen.

 

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