„Die Kameliendame“ von John Neumeier, Tanz: Alina Cojocaru und Artem Ovcharenko

Warum in die Ferne schweifen ...

... wo die Guten sind so nah: Gastauftritte von Bolschoi-Solisten und Rollendebuts bei der „Kameliendame“ in Hamburg

In der Vielfalt der Interpretationen zeigen sich unterschiedlichste Facetten dieses Ballett-Klassikers - wenn auch nicht alle Interpreten überzeugen.

Hamburg, 24/05/2018

Für Mai hatte Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier insgesamt neun Vorstellungen seiner „Kameliendame“ auf den Spielplan gesetzt, das wohl eines der dramaturgisch und choreografisch am besten durcherzählten und anspruchsvollsten Stücke der Ballettliteratur überhaupt ist. Über 235 Vorstellungen gab es bisher allein auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper seit der Premiere am 1. Februar 1981 (die Uraufführung war am 4. November 1978 beim Stuttgarter Ballett), zehn namhafte Kompanien weltweit haben das Werk zurzeit im Repertoire. Durften früher nur sehr streng ausgewählte Solisten die Hauptrollen tanzen, gibt John Neumeier sein Werk inzwischen sehr viel großzügiger für andere Kompanien frei.

Für die jetzige Serie von Aufführungen in Hamburg standen diverse Rollendebüts bevor, vor allem aber Auftritte von Gastsolisten. Viermal tanzte Alina Cojocaru (Erste Solistin beim English National Ballet und regelmäßig als Gastsolistin in Hamburg zu sehen) die Marguerite, zweimal Olga Smirnova, Erste Solistin am Bolschoi. Artem Ovcharenko, Erster Solist am Bolschoi, trat zweimal als Armand auf, ebenso die beiden Hamburger Sascha Trusch (Erster Solist und in dieser Rolle erstmals in Hamburg zu sehen, was ich leider aus Termingründen verpasst habe) und Christopher Evans (Solist). Drei Vorstellungen bestritten die Hamburger Ersten Solisten Anna Laudere und Edvin Revazov.

Die Bilanz der Gastauftritte fällt allerdings relativ ernüchternd aus, vor allem, was die Bolschoi-Stars betraf. Olga Smirnova und Artem Ovcharenko sind zweifellos technisch hervorragende Tänzer, aber darstellerisch blieben viele Wünsche offen – vor allem, wenn man die „Kameliendame“ schon in Bestbesetzungen gesehen hat: von Marcia Haydée und Kevin Haigen über Heather Jurgensen und Jiří Bubeníček, Chantal Lefèvre und Ivan Liska, Joelle Boulogne und Alexandre Riabko, Anna Polikarpova und Ivan Urban, Hélène Bouchet und Thiago Bordin, Silvia Azzoni und Alexandre Riabko oder Alessandra Ferri und Roberto Bolle. Wie kaum ein zweites fordert gerade dieses Werk mit seinen großen dramatischen Pas de deux von den Tänzern eine extreme innere Präsenz, damit es seine Magie entfalten kann.

Das beginnt schon ganz am Anfang beim ersten Blick, den Marguerite und Armand bei ihrer zufälligen Begegnung im Theater wechseln – wenn hier nicht sofort ein Sog entsteht zwischen den beiden, wird es schwierig, die weitere Entwicklung dieser leidenschaftlichen Beziehung noch glaubwürdig zu gestalten. Da kann sich eine Alina Cojocaru, deren Marguerite technisch ebenso fulminant wie emotional berührend ist, noch so sehr ins Zeug legen – wenn ihr Armand in Person von Artem Ovcharenko zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, vermag man kaum nachzuvollziehen, warum sie sich zu diesem eher blasiert erscheinenden Schnösel so hingezogen fühlt. Ovcharenkos Armand bleibt von Anfang bis Ende selbstverliebt und weitgehend leidenschaftslos; die Szene, als er Marguerites Abschiedsbrief erhält und darüber in wütender Verzweiflung explodieren soll, gerät bei ihm fast schon zur Karikatur. Das hat diese großartige Choreografie nicht verdient.

Olga Smirnova dagegen übertreibt es fast schon mit der Dramatik, wodurch ihre Marguerite seltsam manieriert wirkt. Wie kaum in einem anderen Werk kommt es hier jedoch gerade auf die innere Glaubwürdigkeit an, mit der eine Tänzerin die Entwicklung Marguerites von der verwöhnten Kurtisane zur liebenden Frau zu zeichnen vermag, die aus eben dieser Liebe das größte Opfer bringt, dessen sie fähig ist: auf Bitten des Vaters auf den Geliebten zu verzichten, damit dessen Ruf und Karriere nicht beschädigt werden. Da muss jede Geste, jede Bewegung aus dem inneren Erleben erwachsen – weshalb eine Tänzerin auch eine gewisse Reife braucht, um dieser Anforderung überhaupt gerecht werden können. Es geht hier eben gerade nicht um technische Brillanz, sondern vor allem darum, sein Innerstes nach außen kehren, vollkommen und rückhaltlos in dieser Rolle aufgehen zu können, nicht zu schauspielern, sondern zu sein und aus tiefster Seele zu empfinden. Bei Olga Smirnova wirkt das überwiegend aufgesetzt, es ist zwar alles korrekt ‚gemacht‘, aber eben nicht wirklich gefühlt und gelebt. Dass sie dessen durchaus fähig wäre, zeigte ein kurzer Auftritt im Rahmen einer Ballettwerkstatt als Anna Karenina – diese Rolle nahm man ihr sofort ab, und es wird aufschlussreich sein, dieses Stück einmal im Ganzen in ihrer Interpretation zu sehen. Bei der „Kameliendame“ jedoch fehlte es ihr an Überzeugungskraft.

Noch etwas blass auch das Rollendebüt von Christopher Evans als Armand. Zwar gibt sich der 24-Jährige alle Mühe, Armand als stürmisch verliebten jungen Mann zu zeichnen – und doch knistert und funkelt das nicht zwischen ihm und Marguerite (in beiden Vorstellungen: Olga Smirnova). Da fehlt es an Leidenschaft und auch an Erotik – was nicht nur an ihm und seiner Jugend gelegen haben mag.

Bei den Rollendebüts in den Nebenrollen ist vor allem die charmant-kokette und höchst präzise auftanzende Prudence Duvernoy von Madoka Sugai hervorzuheben, Jacopo Bellussi war ein smarter Gaston an ihrer Seite.

Bei dieser Bilanz fragt man sich dann schon, warum bei einer solchen Vorstellungsserie nicht auch die Hamburger Ersten Solisten stärker zum Zuge kommen durften. Wie wertvoll gerade die älteren Tänzer*innen in der Kompanie sind (die inzwischen leider viel zu selten eingesetzt werden), wurde jüngst bei einer Ballett-Werkstatt wieder augenfällig deutlich: Silvia Azzoni und Sascha Riabko tanzten die zwei großen Pas de deux aus Neumeiers „Sylvia“, die erste und die letzte Begegnung zwischen der Amazone und dem Schäfer Aminta. Gerade im schlichten Setting mit Probentrikots und ganz ohne Kulissen wurde offenbar, wann sich eine Choreografie entfalten und aufblühen kann: wenn sich innere Reife und Darstellungskraft mit technischer Souveränität paaren. Genau das hätte man auch bei dieser „Kameliendame“-Serie so gerne erlebt.

 

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