„Über die Insel Formosa“ von Cloud Gate Dance Theatre

Melancholischer Blick auf die Welt

Das neue Stück des Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan feiert bei den Movimentos-Festwochen Europapremiere

„Über die Insel Formosa“ ist eine melancholische Metapher für den Zustand unserer Welt, die ihrem Zerfall entgegen schlingert.

Wolfsburg, 27/04/2018

„Würde“ heißt das diesjährige Motto der 16. Movimentos-Festwochen, und wohl kaum eine Kompanie verkörpert diesen Begriff so selbstverständlich wie das Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan. Zum fünften Mal ist das Ensemble zu Gast in der Autostadt Wolfsburg und entführt die Zuschauer*innen in seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Bewegungskosmos aus traditionellem fernöstlichen Tanz und klassisch-modernen Elementen der westlichen Tanzkultur. „Über die Insel Formosa“ heißt das Werk des künstlerischen Leiters Lin Hwai-min. Doch nicht die Schönheit seiner Heimat Taiwan, die portugiesische Seefahrer einst „Ilha Formosa“ — „die schöne Insel“ – nannten, steht im Vordergrund. „Formosa“ ist eine melancholische Metapher für den Zustand unserer Welt, die ihrem Zerfall entgegen schlingert.

Alles beginnt im gleißenden Nichts. Wie eine aufgeklappte Karte heben sich Bühnenboden und -wand strahlend weiß vom Schwarz der beiden Seiten ab. Tänzer*innen bewegen sich langsam über die Bühne, im Hintergrund erscheinen kalligrafische Schriftzeichen, steigen schräg nach oben auf und bringen zusätzliche Bewegung in das Gesamtbild. Statt Musik erklingen taiwanesische Worte. Deren Übersetzung wird rechts und links der Bühne dezent eingeblendet. Von der Natur erzählt die Stimme, vom Himmel, den Flüssen, den Jahreszeiten. Analog zu diesen kurzen Schilderungen bewegt sich die Tänzerschar wie ein wogendes Reisfeld. Doch die Harmonie bricht.

Immer bizarrer werden die kalligrafischen Projektionen, nehmen vom ganzen Bühnenraum Besitz, verdichten sich zu schattenhafter Schwärze und vergrößern sich zu abstrakten, geschwungenen Linien. Auch der Rhythmus, der die Bewegung der Tänzer*innen vorgibt, verändert sich. Mal sind die gesprochenen Worte der Taktgeber, dann wieder ist es die Klangkomposition aus zeitgenössischer Musik von Gérard Grisey, Kaija Saariaho und Liang Chun-mei. Meist entwickelt sich die Choreografie jedoch zum tonangebenden, klagenden Gesang des taiwanesischen Sängers Sanpuy. Mitunter bleibt den Tänzer*innen nur der unhörbare Rhythmus im eigenen Körper, wenn sie sich in absoluter Stille bewegen und formieren, als seien sie in Trance, geführt von derselben lautlosen, inneren Musik.

Alles ist im Fluss; nichts bleibt, wie es ist. Auf harmonische Formationen und ein zartes Pas de deux folgen stampfende, schwere Bewegungen wie Ausdruck harter, körperlicher Arbeit. Dabei ist unverkennbar, dass die Tänzer*innen allesamt nicht nur in Ballett, Modern Dance und verschiedenen rituellen und höfischen asiatischen Tänzen ausgebildet sind, sondern auch bei einem Qigong- und einem Kampfkunstmeister trainieren. Eindrucksvoll getanzte Konflikte vermitteln eine Atmosphäre von Aggression und Angriffslust. Zwei feindliche Gruppen stehen sich gegenüber, umkreisen sich lauernd. Einzelne brechen immer wieder unvermittelt aus der Ordnung aus, fixieren ihren Gegner, rennen gegeneinander und kämpfen so wild und erbarmungslos, dass der Eindruck einer echten kriegerischen Auseinandersetzung entsteht.

 

Doch nicht nur in den Szenen überbordender Aktion strahlt die enorme Ausdruckskraft des Ensembles. Gerade auch in den Momenten der kontrollierten Langsamkeit bis hin zur absoluten Bewegungslosigkeit nimmt die Ausstrahlung der Tänzer*innen das Publikum gefangen und verlangt höchste Konzentration, um die winzigen Schwingungen der zeitlupenartigen Veränderungen wahrzunehmen. Immer tiefer wird der Sog der Gefühle, immer düsterer die vermittelten Emotionen, bis aus Sehnsucht und Hoffnung Trauer und Verzweiflung werden und zu wilden Percussion-Klängen die Szenerie zum Chaos gerät. Die Schriftzeichen stürzen herab zu einem Trümmerhaufen, die Sprache ist gescheitert, ein wirbelnder Ozean löst die Ordnung ab. Die Tänzer*innen taumeln, fallen und bleiben reglos am Boden liegen. Es wird dunkel.

Doch dies ist nicht das Ende, auch wenn einige das offenbar so interpretieren und zögerlich applaudieren. Lin Hwai-min ist eben ein Vertreter der fernöstlichen zeitgenössischen Tanzkunst und seine „Formosa“-Choreografie weist deutliche buddhistische Bezüge auf. Alle Form ist Leere, alle Dinge sind Illusionen. Und so beginnen im Dunkeln allmählich Sterne zu leuchten, entwickeln sich zu kleinen Schriftzeichen, die wie Himmelslaternen entschweben. Die Tänzer*innen erheben sich langsam zu sphärischen Klängen und nehmen sich an den Händen, bis sie eine Kette der Einheit bilden. Der Nachthimmel wird zum Meer.

Auch dieses Bild der Hoffnung ist trügerisch und nur eine Illusion. An den Bühnenseiten erleuchten die Worte „Liebe“ und „Auf ewig“ und zerfallen wieder, bis kein Buchstabe mehr übrig ist. Und auch die Menschengruppe löst sich auf, bis ein einzelner Tänzer allein im grellen Weiß zurückbleibt. Das Leben ist ein Kreis: Am Ende – wie am Anfang – steht das Nichts. Erst als der Vorhang fällt, löst sich die Spannung der Zuschauer*innen in lang anhaltenden Applaus auf. Diese rund einstündige Choreografie könnte Lins letzte sein. Der vielfach ausgezeichnete Choreograf hat für das Jahr 2019 seinen Abschied als künstlerischer Leiter des Cloud Gate Dance Theatres angekündigt. Es ist ein Abschied voll Wehmut.

 

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