„Cinderella“ von Alfonso Palencia

Veritabler Tanz-Entertainer

Alfonso Palencias "Cinderella" am Theater Hagen

Mit Respekt vor dem Publikum in der Provinz und Hochachtung vor Prokofjews Partitur präsentiert Alfonso Palencia mit seiner nur 13-köpfigen Kompanie ein rundum begeisterndes Märchenballett auf beachtlichem künstlerischen Niveau.

Hagen, 16/04/2018

Weit entfernt von Sergej Prokofjews Shakespeare-Vertonung „Romeo und Julia“ rangiert bis heute in der Gunst der Choreografen dessen Märchenballett „Cinderella“. Das liegt aber vor allem am Thema. Musikalisch jedenfalls wartet der Russe auch in seiner Aschenputtel-Musik mit Klangfarben und Rhythmen auf, die in ihrer Charakterisierung von Personen und Situationen dem früher entstandenen Shakespeare-Ballett keineswegs nachstehen.

50 Szenen hat das dreiaktige Aschenputtel-Libretto von Nikolai Wolkow und verzeichnet neben sieben Solisten allerlei Statisten, Chargen und kleine Gruppen wie Schneeflocken, Blumen, Kavaliere, Höflinge, Getier des Waldes und Personal bei Hofe, dazu Partien für Halbsolisten wie Gäste aus fernen Ländern und die vier Jahreszeiten-Feen, die Cinderella für den Ball herausputzen.

Natürlich sprengt eine derart aufwendige Inszenierung eigentlich alle Dimensionen eines so kleinen Hauses wie des Jugendstil-Theaters in Hagen – sowohl räumlich als auch personell. Die Kompanie hat ganze 13 Positionen zur Verfügung! Dass es trotzdem klappen kann, beweist der neue Ballettchef Alfonso Palencia, der schon als junger Tänzer davon träumte, einmal die Titelpartie tanzen zu dürfen, und später darauf brannte, „Cinderella“ (wenigstens!) zu choreografieren.

Mit Respekt vor dem Publikum in der Provinz und Hochachtung vor Prokofjews Partitur präsentiert er ein rundum begeisterndes Märchenballett auf staunenswertem künstlerischem Niveau. 35 Szenen choreografiert er, nimmt karg bevölkerte glitzernde Räume in Kauf, profitiert von imaginärer Raumvergrößerung durch raffinierte, fantasievolle Videoclips, schickt die meisten Ensemblemitglieder in mehreren Rollen auf die Bühne, nutzt die Statisterie des Theaters und individuelle Kompetenzen (wie die Spitzentanz-Technik von Amber Neumann und Serena Landriel als Sommer- und Winterfeen).

Auch choreografisch nutzt der Ex-Tänzer, was Theateralltag und Meisterchoreografen ihn lehrten. Vor allem hört er genau auf die Musik. Prokofjew vertont Mentalität und Emotionen seiner Charaktere. Palencia setzt sie wunderbar in ausdrucksvolle Bewegung um. Palencia ist ein veritabler Tanz-Entertainer!

Zu Gute kam dem Spanier für die Choreografie seines ersten abendfüllenden Handlungsballetts auch: Er ist nicht nur als Ballettchef am Ziel seiner Träume, sondern hat mit der südkoreanischen Da Ae Kim eine Ballerina frisch im Ensemble, wie sie passender für das unglückliche, verträumte junge Aschenputtel kaum vorstellbar ist. Da Ae Kim – angenehm aufgefallen schon in dem Dreiteiler, mit dem Palencia sich und seine Kompanie zum Spielzeitauftakt vorstellte – ist mit erstaunlicher Sicherheit der großen Partie gewachsen und bezaubert mit zarten lyrischen Bewegungen und anrührend authentischer Ausstrahlung. Die neoklassischen Posen und Gesten mit sparsamen eigenwilligen modernistischen oder pantomimisch aussagekräftigen Akzenten der Handschrift Palencias tanzt sie beim Ball in Stöckelschuhen, sonst aber meist barfuß auf Halbspitze, was vor allem gut passt, wenn Aschenputtel als verachtete Magd der exaltierten Stieffamilie dienen muss.

Mutter und Töchter sind mit Männern besetzt. Damit geht Palencia einen Schritt weiter als Frederick Ashton, der bei der ersten west-europäischen Einstudierung des russischen Balletts (1948 in London) die Stiefschwestern auch mit Tänzern besetzte – was natürlich deren absurdes (Daneben-)Benehmen wunderbar karikiert. Gonçalo Martins da Silva und Gennaro Chianese sehen wie Zwillinge aus – ein glänzender Effekt! Der dunkelhäutige, hochgewachsene Bobby Briscoe gibt die Mutter (in hochhackigen Pumps und mit wallender Lockenmähne) einen Tick zu tuntig und zu wenig parodistisch. Noemi Martone ist die „Mutterfee“ – Erinnerungs-Ikone von Cinderellas verstorbener Mutter, deren Grab das junge Mädchen im Prolog besucht.

Reichlich hölzern wirken in der A-Besetzung (alle Solisten sind doppelt einstudiert!) Leszek Januszewski als Cinderellas Vater und leider auch der viel zu alt und gelangweilt wirkende Gustavo Barros als vermeintlicher „Traumprinz“. Oder ist's Absicht? Macht Cinderellas Sehnsucht nach Liebe sie blind für den Melancholiker? Eine flotte Perücke und etwas weniger Larmoyanz könnten (vielleicht) Wunder wirken.

Der international renommierte Ausstatter Dorin Gal und Videokünstler Rasmus Freese bestücken die Bühne schick, effizient und technisch up to date. So steht zwar die große Uhr auf dem Kamin, in dem Cinderella ihr Bettlager aufschlagen muss. Aber beim Uhrentanz des 1. Akts (eigentlich eine Nummer für Kinderballett) und in der Ballnacht wächst sie und dreht sich virtuell durch den ganzen Bühnenraum. Auch Zwischenvorhänge sorgen für einen magischen Touch und den zügigen Ablauf beim Szenenwechsel. Dorin Gals Kostüme sind mehr als ein Hingucker für die nächste Karnevalssession.

Sehr gründlich hat der vielseitig erfahrene Tanzmacher Alfonso Palencia überlegt, wie viel er wagen darf und kann mit seinem Ensemble in der kleinen Industriestadt, wo das traditionsreiche Theater seit Jahren ums Überleben kämpft. Ein Pendant zu Matthew Bournes „Schwanensee“ als reines Männerballett jedenfalls wagte er nicht. Wär' ja auch zu schade, wenn so eine wunderbare Ballerina als Cinderella wie Da Ae Kim zur Verfügung steht.

 

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