„Protagonist“ von Jefta van Dinthers

Gleichnishafte Bilder vom Missbehagen an dieser Welt

Das Cullbergbaletten zeigt Jefta van Dinthers „Protagonist“ im HAU Berlin

Es ist nicht Tanz im engeren Sinn, mit dem van Dinther hier aufwartet. Wohl aber ein eng begrenztes, oft sprödes und dennoch so zielsicher wie konsequent eingesetztes Vokabular an physischen Ausbrüchen, die starkes Missbehagen an dieser Welt artikulieren.

Berlin, 15/01/2018

Spätestens seit dem Duo „Dark Field Analysis“ vom letzten Tanz im August zählt Jefta van Dinther, halb Niederländer, halb Däne, zu den Choreografen, die tief ins menschliche Innere loten. Das erkannte man auch beim Cullbergbaletten, seit mehr als 50 Jahren Schwedens führender Kompanie für zeitgenössischen Tanz. Dort hatte im Juli 2017 van Dinthers neues, zweites Stück für die Stockholmer Truppe Premiere. Mit nur geringer Verspätung erreicht es nun das Hebbel am Ufer und fordert die Zuschauer aktiv zum Mitvollziehen. Denn einfach macht es ihnen der Choreograf nicht. „Protagonist“ klingt nach klaren Verhältnissen auf der Bühne, zwischen Hauptakteur und Masse. Genau das jedoch hat van Dinther nicht im Sinn. So wie die Welt keine eindeutigen Verhältnisse und Zuordnungen kennt, operiert auch seine Kunst eher im Ungefähren, Assoziativen. In „Protagonist“ tun sich drei Genres eng zusammen: Bewegung, Klang und Licht.

Ein Dutzend Scheinwerfer erleuchten pinkfarben ein Gerüst aus Metallstangen. Aus dem Off säuselt ein Mann vom Gefühl, etwas verändern zu müssen. Da schalten sich in sportiver Kleidung die 15 Tänzer ein. Wie ein Gesamtkörper bewegen sie sich, oft diffus, bisweilen ruppig, mit gestischen Dialogen. Fahrig ist das und voller Verzweiflung, ballt sich und wogt wie ein Feld menschlicher Ähren. Manchmal wird ein Akteur gehoben, als sei er der Hoffnungsträger, sinkt jedoch zurück in eine hilflose Menge ohne Orientierung. Kontakte sind selten und nur von kurzer Dauer, Stürze folgen, Röte glimmt bedrohlich auf oder Streifen von Neonlicht teilen den Boden. „What did I do?“, fragt Elias, ein 21-jähriger Sänger aus Schweden, den van Dinther für sich entdeckt hat. Die Tänzer knien und schlagen um sich, als verteidigten sie sich gegen eine Gefahr, die eher in ihnen selbst steckt. „Falling“, klagt und schluchzt Elias so lange, bis die Tänzer als sein Chorus einstimmen, eine beeindruckende Szene. Hoffnung keimt auf.

Die verbreitet auch Elias: „Let‘s start a revolution!“, so lautet sein Fanal, die Lethargie zu überwinden. Es bündelt nach einem Stillstand, in dem man um den Fortgang des Stücks fürchtet, das gemeinsame Wollen. Frontal stehen die Tänzer, sinken ganz langsam in gekrümmte Haltungen, tapsen aus dieser Formation, als eroberte sich staunend eine menschliche Urform ihr neues Umfeld. Unschuldig legen sie ihre Kleidung ab, schaukeln an dem Gerüst und wirken keusch wie die Menschlein auf Hieronymus Boschs Tafelbild „Garten der Lüste“ von 1500. Um Lüste indes geht es hier weniger, mehr um Größeres: den Neubeginn unserer Spezies. Allmählich streifen die Tänzer das animalische Gehabe ab und recken sich in neuem Bewusstwerden. Gelbes Licht wärmt da die Nackten und bezieht blendend die Zuschauer ein, bis ein Black den Prozess endet. Die Sehnsucht nach einer besseren Welt hat ihre szenische Entsprechung gefunden.

Es ist nicht Tanz im engeren Sinn, mit dem van Dinther hier aufwartet. Wohl aber ein zwar eng begrenztes, oft sprödes und dennoch so zielsicher wie konsequent eingesetztes Vokabular an physischen Ausbrüchen, die starkes Missbehagen an dieser Welt artikulieren. Wieder verschmilzt der Regisseur die Künste zu gemeinsamer Aussage, und wieder gelingt es ihm, Nacktheit als etwas Selbstverständliches einzubringen. Wer ist nun aber der Protagonist? Kein Individuum, sondern die gesamte Menschheit in ihrem Streben nach Veränderung hin zu einer höheren Stufe.

 

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