„Romeo und Julia“ von Simone Sandroni. Tanz: Brecht Bovijn

„Romeo und Julia“ von Simone Sandroni. Tanz: Brecht Bovijn

Musikalisch eingedampft und szenisch abstrakt

Simone Sandronis „Romeo und Julia“ in Bielefeld

Großer Bühnenzauber unterm Zylinder aus Tanz, Licht und Video mit Bühnenmusik.

Bielefeld, 21/10/2017

Ein Handlungsballett ohne Handlung - geht das überhaupt? „Romeo und Julia“ als abstraktes Tanztheater? Nicht umsonst deklariert Simone Sandroni seine Choreografie als „Uraufführung“. Der Italiener, seit 2015 ostwestfälischer Tanzchef, bietet in der Tat einen völlig neuen Ansatz, Shakespeares Liebestragödie zu Prokofjews Ballettmusik auf die Bühne zu bringen. Er konzipierte den modernen Klassiker in Zusammenarbeit mit seinen zehn Ensemblemitgliedern. Dass die Aufführung lediglich 80 pausenlose Minuten dauert (anstelle der 140 Minuten von Prokofjews meist gespielter „Leningrader Fassung“) und den Tanzenden keine Rollen zugewiesen sind, ist Fingerzeig genug, dass hier kein neuer Geschichtenerzähler am Werk war. Und in der Tat: Sandroni setzt völlig auf die Emotionen der handelnden Personen und das, was die Kontemplation darüber in den Tanzenden auslöst.

Er hält sich an Pina Bauschs Technik der Stichworte und Fragen an die Tänzer als Probenritual, etwa Liebe, Sterben, Trauer, Rivalität. Entstanden ist ein Bilderbogen von überbordend dynamischer, akrobatischer Power und latenter Aggressivität mit spektakulären technischen Effekten aus Licht (Johann Kaiser) - meist in weiß, hellblau und schwarz - und Video-Einspielungen (Barbara Schröer), beginnend mit einer verfremdeten Tanzsequenz des nackten Liebespaares und später den Gesichtern Einzelner in Großaufnahme, wenn sie heiter, ernst oder mit tränenerstickter Stimme über eigene Lebenserfahrungen und Ängste sinnieren.

Die ganze Breite der Bühne bis hinein in die Kulissengänge, wo Kleiderständer die kaum enden wollenden Kostümwechsel signalisieren, wird bespielt (Ausstattung: Stephan Mannteuffel). Zwei Stufen über dem Orchestergraben führen hin zum Parkett, werden aber kaum genutzt. Über der weißen Tanzfläche schwebt mittig ein gigantischer Zylinder aus weißen Kautschukbahnen wie man sie von Hotel- oder Kaufhauseingängen kennt. Wenn er sich senkt, schreiten die Tänzer leicht durch die wallenden Bahnen. Das gibt vor allem ein berückendes Bild, wenn sie Arme und Körper wellenartig schwingen oder in der angedeuteten Ballszene synchron wogen.

Auch andere Schlüsselszenen werden gestreift. So kulminiert die mehrmals angedeutete Balkonszene in einem eher grob aggressiv wirkenden Duett (Tiemen Stemerding und Johanna Wernmo). Anrührend dagegen kommen am Ende Julias Trauer um Romeo und ihr eigener Tod über. Mit schwarzer Kutte oder Magier-Outfit tritt mehrfach in unterschiedlicher Gestalt „Pater Lorenzo“ auf - ebenso offenbar die rivalisierenden Väter (Jacob Gómez Ruiz, Alexandra Blondeau). Bewusst wird in den meisten Konstellationen auf die vertraute Genderzuordnung verzichtet - besonders auffällig bei dem verwundeten, sterbenden Mercutio: Der markige Brecht Bovijn vollführt beeindruckende athletische Eskapaden in einem (scheußlichen) langen, ärmellosen Kleid.
Die Idee, das Orchester auf der Hinterbühne zu platzieren, zahlt sich einmal mehr aus. Der Klang kommt so viel klarer rüber als aus dem Orchestergraben. Der neue Kapellmeister Gregor Rot hat Tempi, Dynamik und Colorit der Partitur souverän im Griff. Ob er sie allerdings passgenau für diesen Abend zurechtgestutzt hat - darüber schweigt das Programmheft.

Das Premierenpublikum ließ sich von dem Bühnenzauber gefangen nehmen und begeistern. Mit fast zehnminütigen stehenden Ovationen dankten die Zuschauer für eine Show, bei der die kleine, mit fünf neuen Mitgliedern neu aufgestellte Truppe alle Register zog.

 

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