Hell yes!

Richard Siegals „El Dorado“ auf der Ruhrtriennale im PACT Zollverein in Essen

Während der Ruhrtriennale feiert Siegals neue Kreation „El Dorado“ Premiere. Sie ist der letzte Teil der Triennale-Trilogie und wird gemeinsam mit den ersten beiden Teilen „Model“ (2015) und „In Medias Res“ (2016) aufgeführt.

Essen, 27/08/2017

Auf dem internationalen Kunstmarkt ist Richard Siegal ein Los, das gewinnt. Man weiß zwar als Zuschauerin nie genau, was man am Ende des Abends mit nach Hause nehmen wird, aber man kann sich sicher sein, dass dieses Etwas ab sofort einen prominenten Platz einnehmen wird: Manchmal ist es das leuchtend laute Neonplüschtier, manchmal die zarte Pflanze oder der sperrige Kaktus, die erst viel später Blüten schlagen. Siegals Arbeiten haben einen Nachgang – das ist der Thrill. Und da ist es auch völlig in Ordnung, wenn man mal nicht gleich begreift, was da eigentlich passiert auf der Bühne.

Während der Ruhrtriennale feiert im PACT Zollverein seine neue Kreation „El Dorado“ Premiere. Sie ist der letzte Teil der Triennale-Trilogie und wird gemeinsam mit den ersten beiden Teilen „Model“ (2015) und „In Medias Res“ (2016) aufgeführt. Abendfüllend wäre etwas untertrieben, denn das als Opus Magnum angekündigte Gesamtwerk dauert schöne vier Stunden. Auch die ‚Vorlage‘ könnte größer kaum sein: Dantes „Göttliche Komödie“. Vermessen, könnte man meinen, denn wer traut sich im hier und heute, das Europa heißt, einen Entwurf von Himmel und Hölle zu?
Und wer liest heute eigentlich noch Dante? (Der Dramaturg sicherlich.) Die Lösung der problematischen Voraussetzungen liegt in der Assoziation – wer Narration erwartet, kann gleich nach Hause gehen. Dante wird zum Steinbruch, zur Folie, auf die Siegal seine ganz eigenen Welten, Himmel und Höllen zeichnet.

Die überarbeitete Version von „Model“ führt in einer Art Prolog die zwei Tänzer ein, die den roten Faden durch alle drei Teile ziehen: Corey Scott-Gilbert und der 77-jährige Gus Solomons Jr. gehen in einen beinahe transzendiert wirkenden Dialog von Körper und Sprache. Es berühren sich in sanfter Spiegelung zwei Finger, die Handrücken, Schulter und Schulter. Dazu die ersten Worte der Commedia, zerpflückt in syllabisch-repetitive Echos, die sie einander zaubern, kompositorisch sauber auf das Gegenüber abgestimmt. Danach wird es brutaler: LED-Flächen-Beschuss, der an metallisch hämmernde Musik gekoppelt ist, TänzerInnen, die sich kühl und scharf in einer Endlosschleifenkombination aus Chaînés und Piqué im Kreis drehen. Der Körper besteht aus auswechselbaren Maschinenteilen, die ein- und ausrasten, ihr Eigenleben führen, das Becken schaukelt unbeteiligt vor und zurück, vor und zurück. Fragmente sammeln sich zu Motiven: abgeknickte Handflächen, schräg gelegte Köpfe, archaisch anmutende Ritualtanzfloskeln. Die Beine trippeln, trampeln und stechen, einer bellt. Rätselhaft bleibt, woran sie sich in undurchsichtigen Gruppenformationen so tänzerisch abarbeiten. Die Schuld, die große alte?

MERCY leuchtet es wie in einem Musikvideo von Pharrell Williams super pop auf der Lichtfläche, doch das dramatische Flehen um Vergebung schwingt mit, eben jene Schuld und mit ihr die gesamte italienische Operntradition, die ohne pietà einpacken kann. Das große LED-Monster wird zum unberechenbaren Höllenfeuer, das System lässt keine Ruhe, attackiert uns mit verstörendem Industrial Sound. Vergeblich suchen wir nach einer Ordnung, die wir kennen – Mann hebt Frau und die Symmetrie aller Dinge. Nichts gibt Halt und alle verlieren sich. Am Ende sieht es gar so aus, als würden die TänzerInnen selbst Teil des systemischen Blutkreislaufs einer übergeordneten Unterwelt-Mechanik.

Im Charakter gänzlich anders ist „In Medias Res“ geraten. Viel konkreter, viel theatraler ist der Gestus, weniger düster, manchmal sogar komisch die Stimmung. Es gibt weniger Tanz, dafür mehr Handlung, im wahrsten Sinne: Es wird getan und gemacht, zur Sache eben. Viele Dinge passieren gleichzeitig oder in dichter Abfolge und der Raum ist ständiger Veränderung unterworfen. Einige viele Requisiten spielen eine Rolle, man weiß nur nicht genau, welche. Da gibt es beispielsweise eine Mülltonne, Steine, Erde, eine Gießkanne, eine Leiter, Kleiderstangen, Atemmasken. Irgendwo zwischen Baustelle und Volksbühne findet hier ein extrem absurdes Theater statt, das sich nicht zu schade ist für billigen Slap Stick und Regietheater-Schlamm-und-Farbe-Eskalationen. Immerhin auch Live-Musik. Die Cellistin ist gleichzeitig die Köchin, der Mann am Kontrabass kann irgendwie alles und deshalb macht er den Erzähler gleich auch noch mit. Das sind dankbare Figuren, die Siegal versammelt und über jeder Szene schwebt die Potentialität einer Situation.

TänzerInnen gibt es hier weniger als im ersten Teil, die Bewegung ist neben der Sprache, dem Raum, der Musik und anderen Elementen nur ein Baustein von vielen innerhalb der Tableaux. Gegen Schluss sind alle nassgeschwitzt oder dreckverschmiert und einer schwenkt virtuos die weiße Fahne. Aber es gibt kein Entkommen, denn von der Bühnenrückwand aus wird die Plane, auf der sich die ganze Schweinerei abgespielt hat, in ein großes schwarzes Loch hineingesogen, ganz langsam, unumgänglich in den dunklen Schacht hinein, von dem eine magische Anziehungskraft ausgeht. Hell yes. Das einzige, was in diesem Purgatorio gereinigt wird, sind die nun nackten Körper der TänzerInnen, die sich auf offener Bühne undramatisch abduschen.

Die Neukreation „El Dorado“ will auf Anschluss kommunizieren: Wasser im hinteren Bühnenbereich und Nackte. Wie zwei erste oder zwei letzte Menschen betreten Corey Scott-Gilbert und Gus Solomons Jr. den Bühnenraum. Dem einen wurde der Schoß vergoldet, der andere ist bis zu den Knien mit dem glitzernden Staub bedeckt. Von oben lässt eine der LED-Flächen Goldlicht regnen und aus nicht definierbaren Höhen fallen federne Flocken. Ein leises Plätschern, unaufdringliche Urwaldgeräusche. Hinten im Wasser kniet eine nackte Frau als goldener Buddha – eine zur Pose degradierte Fruchtbarkeitsgöttin in einer patriarchalen Welt- und Himmelsordnung.

Die zwei Männer umkreisen einander wie zwei Wanderer ohne Ziel. Mit der ersten Berührung ihrer Fingerspitzen spielt das Licht verrückt und wechselt die Farben, als wäre es an die Körper und Energien der beiden angeschlossen. Das Spiel mit dem Echo geht von vorne los, Wörter laufen auf repeat. Die beiden schaukeln einander und schieben ihre Körper als Konsequenz einer Berührung hin und her. Es ist der einklickende, faltbare, verstellbare Körper. Größtenteils bewegen sie sich in langsamen, meditativen Bewegungen und die Spannung zwischen ihnen ist als Energie spürbar. Man muss sich allerdings gezielt darauf einlassen, sonst läuft man Gefahr, das Ganze als langatmigen Tai-Chi-Workshop abzutun.

Harte Brüche durch weiß flackernde Lichtspots und hämmernde Soundattacken. Roh und unfertig wirkt das, wie auch der leider lustig gemeinte Kommentar zu Erleuchtung und Erlösung: Nach einer Goldpartikeldusche von oben – wie sonst – wird mit offengelegtem Theatertrick Gold gekotzt, draus wiederum Kunst gemacht. Das erinnert ein wenig an Matthew Barneys vergoldete Scheiße – aber die hatte wenigstens eine heilige Aura. Im Publikum lachen genau zwei Menschen (und der Rest schämt sich vielleicht). Aber es ist exakt die Dosis schlimme Albernheit, die man verkraften kann und die einen wertschätzen lässt, wenn etwas Großes passiert. Es gibt zum Beispiel die Momente, da möchte man nicht glauben, dass es diesen in seinen Proportionen und Ausmaßen exzeptionellen Körper von Scott-Gilbert gibt, weil er so unwirklich exponiert alles Menschliche in gesteigerter Form offenlegt, uns vertraut und doch so fremd ist. Auch wenn der Körper glänzt vor Gold, wir werden ihn nicht los.

Es bleiben zwei sehr unterschiedliche Arten von Erinnerung. Einmal die Erinnerung an alles Konkrete, an präzise gebaute Bilder, die in einem Nachhallen: Gus Solomons Jr. wie er horizontal als Brett auf einem Klotz knapp über dem Boden schwebt (very Bob Wilson natürlich). Scott-Gilbert, der sich schützend oder begehrend wie ein Tier über den älteren Körper beugt oder breitbeinig, ziemlich obszön über der goldenen Dame steht. Afrikanische Tanzeinlagen, Stroboskop und zuckendes Vollblack. Die zweite Art der Erinnerung ist schwieriger bis gar nicht zu vermitteln, denn sie folgt nicht den Spuren von Bildern und Stimmungen, sondern beginnt da, wo „das Gedächtnis nicht mehr mithält.“ Es geht um die Gewissheit, dass eine Idee in unsere Köpfe gepflanzt wurde, die erst viel später blüht. Wir haben mal wieder das Siegal-Los gezogen.

 

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