Kirill Serebrennikov

Kirill Serebrennikov

Verboten, verschoben, vergessen?

Zur Absage der Uraufführung „Nurejew“ des Regisseurs Kirill Serebrennikow und des Choreografen Juri Possochow am Moskauer Bolschoi-Theater

Die russische Justiz ermittelt inzwischen gegen Serebrennikow. Sein Reisepass wurde beschlagnahmt. Das setzt auch seine nächste Inszenierung im Ausland aufs Spiel – eine Premiere an der Stuttgarter Staatsoper im Oktober: „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck.

Moskau, 18/07/2017

Die Absetzung oder Zensur missliebiger Theaterstücke kennt man, zumindest im Osten. In der DDR konnten dann zumindest manche dieser Stücke in der Provinz gespielt werden, die an größeren Häusern keine Chance hatten. Ballette traf es seltener. Das Ballett „Der Bolzen“ von Dmitri Schostakowitsch erlebte zwar 1931 am Leningrader Kirov-Theater seine Uraufführung, wurde aber kurze Zeit darauf abgesetzt. Zu linientreu, befanden selbst die stalinistischen Linienrichter, auch musikalisch nicht der größte Wurf des Komponisten – inzwischen in einer Choreografie von Alexei Ratmansky seit 2006 im Repertoire des Bolschoi-Theaters in Moskau. Wegen moralischer Anstößigkeit ließ schon der damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, die Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“ von Béla Bartók nach der Uraufführung 1926 verbieten.

Vor einem solchen Hintergrund verwundert es nicht, wenn angesichts der gegenwärtigen Turbulenzen um ein drei Tage vor der Uraufführung abgesetztes Stück über den Tänzer Rudolf Nurejew am Moskauer Bolschoi-Theater, von Zensur die Rede ist, von Einschränkung der Kunstfreiheit und im Zusammenhang mit einer hier unumgänglichen Thematik: von homophoben Zusammenhängen. Daraus, dass Nurejew homosexuell war, dass er seine Neigung exzessiv auslebte, hat er selbst kein Geheimnis gemacht, allerdings auch erst, als er nach seiner Flucht in den Westen nicht mehr die Verfolgungen des Geheimdienstes KGB fürchten musste, wo man sich ebenso wie beim Staatssicherheitsdienst der DDR sehr dafür interessierte, wer wann und wo mit wem schlief. Zudem sparen manche der Biografien hier nicht mit teilweise unangemessenen und lediglich reißerischen Detailschilderungen.

Homosexualität war seit 1933 in der Sowjetunion gesetzlich verboten und wurde hart bestraft, Tausende verschwanden in Lagern. Obwohl das gesetzliche Verbot nicht mehr gilt, ist die Diskriminierung und die Ablehnung großer Teile der Bevölkerung immer noch präsent. Durch menschenverachtende Statements führender Politikerinnen und Politiker, werden so gut wie jede angemessene öffentliche Diskussion oder gar kleinste Ansätze von Aufklärung verhindert – vor allem durch die indifferente Haltung des Präsidenten Putin in dieser Frage, der sich im Hinblick auf die Einschränkung der öffentlichen Wahrnehmung homosexueller Menschen auf deren Schutz vor militanten Gegnern beruft. Kinderschutz und Jugendschutz können auch zu Totschlagargumenten werden.

Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, sich vorzustellen, dass am ersten Opernhaus des Staates, beim Ballett des Bolschoi-Theaters, das Leben eines schwulen Künstlers im Mittelpunkt einer großen, genreübergreifenden Produktion stehen soll. Und hat man Nurejew wirklich verzeihen können, dass der damalige Startänzer sich nach einem Gastspiel des Leningrader Kirov-Theaters 1961 in Paris abgesetzt hatte? In Abwesenheit wurde er zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt. Zudem kann man ja nicht erwarten, dass Kirill Serebrennikow, einer der angesagtesten Theater- und Filmregisseure Russlands, gemeinsam mit dem renommierten Tänzer und Choreografen Juri Possochow, diese Themen ausblenden würde.

Nein, so die Leitung des Theaters, es habe keine Direktive seitens der Regierung, seitens des Kulturministeriums gegeben, man habe allein die künstlerische Qualität im Blick und da habe sich eben herausgestellt, dass dieses Stück noch nicht aufführungsreif sei. Es gab Gerüchte, dass Bolschoi-Generaldirektor Wladimir Urin entsetzt gewesen sei, ob über den Inhalt oder das vorhandene, künstlerische Ergebnis, wird in dieser Meldung des Standard nicht mitgeteilt. Urin wird nochmals zitiert, wie auch in vielen anderen Meldungen und Kommentaren, es handle sich um eine „künstlerische Entscheidung“, und – das liest man nicht in allen Äußerungen – die Premiere finde statt, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Einer der Tänzer der Rolle des Nurejew, der ungenannt bleiben möchte, sieht das laut Standard ganz anders. Er bestätigt zwar, dass es Probleme gegeben habe, das sei aber in einem solchen Prozess normal, so der Tänzer gegenüber AFP, „Deshalb glaubt auch niemand in der Truppe an die Begründung“. Weiter kann man in der Meldung des Standard lesen, eine regierungsnahe Quelle habe dem unabhängigen Sender Rain TV gesagt, in dem Ballett sei es um „Freiheit für Schwule“ gegangen, und dies habe wie eine „Provokation“ gewirkt. In Russland ist Homosexualität weitgehend ein Tabu-Thema: Homo-Ehen sind verboten, der Ruf nach rechtlicher Gleichstellung Homosexueller wird abgelehnt. Ein seit 2013 geltendes Gesetz stellt positive Äußerungen über Homosexualität, angebliche „Homosexuellen-Propaganda“, in Anwesenheit von Minderjährigen unter Strafe. Für das umstrittene Werk war allerdings von vornherein vorgesehen, eine Altersbegrenzung ab 18 Jahre durchzusetzen.

In einem längeren Kommentar der New York Times, in dem immerhin die Möglichkeit einer Verschiebung der Uraufführung aus künstlerischen Gründen nicht gänzlich unberücksichtigt bleibt, gibt es einen Link zu einem Video, auf dem man einen kurzen Probenausschnitt sieht. Leider weiß man nicht, in welcher Phase der Proben diese Aufnahmen gemacht wurden, auf denen in der Tat noch sehr unfertig wirkende kurze Passgen zu sehen sind. Für die Hüter der Moral könnten allerdings die als queere Gestalten schreitenden Tänzer in High Heels schon eines der Probleme sein, mit denen sie nicht umgehen möchten und deshalb zu verhindern suchen, es anderen Menschen zu ermöglichen. Inzwischen aber kursieren Fotos und Videos im Netz, die einen aktuelleren Stand wiederzugeben scheinen. Was bei den fürsorglichen Verantwortlichen Anstoß erregen dürfte, ist das Bild eines nackten Tänzers bei Hinteransicht und eine Videozuspielung eines nackten Mannes von vorn in voller Größe.

Aber sollte es einem Regisseur vom Range Kirill Serebrennikow bei einem Werk über das widersprüchliche und auch zerrissene Leben eines Ausnahmekünstlers wie Rudolf Nurejew, der 1993 an AIDS qualvoll starb, wirklich nur um nackte Provokationen gehen? Das ist schwer vorstellbar, zumal man ihn als Opernregisseur auch hierzulande kennt. Denkt man an seine Sicht auf „Salome“ an der Oper in Stuttgart, oder auf „Der Barbier von Sevilla“ an der Komischen Oper in Berlin, sind die Meinungen geteilt – natürlich gibt es Zustimmung und Ablehnung.

Aber ist das nicht eine der ersten Aufgaben des Theaters, auch des Tanzes, konstruktive Widersprüche hervorzurufen? Eine genreübergreifende Musiktheater- und Ballettproduktion über eine so bedeutende und auch widersprüchliche Persönlichkeit wie Rudolf Nurejew böte sich an. Dass „Nurejew“ wie angekündigt im kommenden Jahr auf der Bühne des Moskauer Bolschoi-Theaters lebt, liebt, tanzt und stirbt, würde sich genauso anbieten: im März 2018 wäre er 80 Jahre alt geworden.

Schade nur, dass man den Status Quo verschlimmert hat, indem die russische Justiz inzwischen gegen Serebrennikow ermittelt. Sein Reisepass wurde beschlagnahmt. Das setzt auch seine nächste Inszenierung im Ausland aufs Spiel – eine Premiere an der Stuttgarter Staatsoper im Oktober: „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck. Es scheint um mehr zu gehen als nur seinen „Nurejew“…

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