„Kifwebe.01“ von Miguel Mavatiko.

„Kifwebe.01“ von Miguel Mavatiko.

Movement never lies

TanzArt ostwest 2017 in Gießen

Das Austauschfestival zeigt sich international und vielfältig.

Gießen, 07/06/2017

Der Gießener Ballettdirektor Tarek Assam ist ein großer Netzwerker. Als Gründungsmitglied des Austauschfestivals TanzArt ostwest hat er diese Idee in der Spielzeit 2002/03 mit nach Gießen gebracht. Jährlich an Pfingsten findet es auf den Bühnen und an außerhalb gelegenen Orten statt. Die Tanzstücke der freien Szene sind hauptsächlich auf der taT-Studiobühne zu sehen, die Delegationen der Theaterhäuser treten bei der Tanz-Gala im Großen Haus auf. Die enorme Vielfalt des Bühnentanzes ist an diesen Tagen wie im Zeitraffer zu erleben.

Studiobühne

Gäste aus der ganzen Welt zeigten in fünf Veranstaltungen an drei langen Abenden ihre neuesten Tanzstücke auf der taT- Studiobühne. Über Europa hinaus waren auch Tänzer aus China und Schwarzafrika dabei, die mit ihrer anderen Kulturtradition großen Eindruck hinterließen. Aus Peking/China kam eine Gruppe um den Choreografen Yang Zhen, die ihr kürzlich beim DANCE-Festival München uraufgeführtes Stück „Minorities“ zeigten. Das Auftragswerk thematisiert das offiziell verpönte Thema Minderheiten im Vielvölkerstaat China. Die vier jungen Tänzerinnen stammen aus verschiedenen Ethnien: der mehrheitlichen Han-Gruppe, aus Tibet, Korea und der Mongolei. Sie alle lieben China und die Kultur des Landes, das zeigt sich in dem dokumentarisch angelegten Stück sehr deutlich, doch sie sehnen sich nach Freiheit. Dieser Wunsch wird derart leidenschaftlich durch Gesang und Tanz zum Ausdruck gebracht, dass es allein beim Zuschauen schmerzt. In der Heimat dürfen sie ihre Choreografie nicht aufführen, soviel ist klar.

Von der Shenzhen Arts School (Südchina), mit der die Tanzcompagnie Gießen seit einigen Jahren in regem Austausch steht, war die junge Tänzerin Zhu Manling in Begleitung des dortigen Musikdirektors Li Fanmo gekommen. Auch ihr Solo „Dream Young“ handelt vom Wünschen, hier der Traum vom Tanzen, der sich in flotten Salsa-Rhythmen entlud. Zur Kolonialgeschichte Afrikas zeigte Miguel Mavatiko (Düsseldorf) eine beeindruckende, kürzlich in Stuttgart mit einem Preis bedachte Kurzchoreografie. Er machte die systematische Ausplünderung des Kongo zum Thema, bei der Millionen Menschen getötet und durch das Abhacken der Hände verstümmelt wurden. Die Holzmaske zu Beginn, das beständige Wiederholen von Gesten und Worten erinnern an die Tradition Afrikas, den Tanz als Widerstand und als Brücke zu den Ahnen zu nutzen. Die Musikauswahl und die Technik der Isolationsbewegungen waren westlich modern.

Es gab diverse Soli im neoklassischen Stil, Duette und Kleingruppen (vor allem aus Italien) im Contemporary Dance und anschauliches Tanztheater. In Erinnerung bleiben das Männer-Duett „Doubletake“, das Choreograf Gianni Cuccaro (Bielefeld) zusammen mit Hellmut Hillerns tanzt – das heißt, ein Profi mit einem Laien, der noch dazu eine gute Generation älter ist. Das Stück stellt Fragen zum Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten. Unterschiedliche Alter machte auch das Trio vom Zwirowania Dance Theatre aus Warschau zum Thema: ein Mann zwischen zwei Frauen in ihrem streckenweise humorvollen „Backup“.

Irene Kalbusch aus Eupen/Belgien, TanzArt-Austauschpartnerin der ersten Stunde, hatte eine Szene aus ihrem abendfüllenden Stück über die Kartoffel mitgebracht. Mélodie Lasselin, einst Mitglied der Tanzcompagnie Gießen, tanzte schüchtern-schräg zur französischen Fassung von Leonard Cohens „Suzanne“. Gerahmt von Kartoffeln im Karree, geschmückt mit Salatblättern, an denen sie auch knabberte, schielte sie was das Zeug hält. Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Schönheitsideale brachte, wie schon im vergangenen Jahr, Susanna Curtis (Nürnberg) zum Wanken. Die Britin erfreute mit ihrem köstlichen Humor, in „Fitness mit Frieda“ zeigte sie haushaltskompatible Alternativen zum Fitnessstudio. Einfach wunderbar.

Tanz-Gala im Großen Haus

Das Stadttheater war am Pfingstmontag zum Bersten gefüllt, die Stimmung vibrierte vor Spannung und Freude. Die Tanz-Gala ist in Gießen zum gesellschaftlichen Event geworden. Zu den Vertretern des neoklassischen Balletts, die teils in Ballettschuhen, aber nicht konsequent auf Spitze tanzten, gehörten die Bühnen Chemnitz und Gelsenkirchen. Vorpommern wählte dazu mit dem Gershwin-Klassiker „Porgy und Bess“ eine beschwingte Musik. Die Solotänzerin Mai Kono vom Bayerischen Staatsballett hatte ihren vorerst letzten Auftritt auf einer deutschen Bühne, denn sie geht nach Montreal.

Das Ballett Dortmund zeigt zwei Pas-de-Deux, von denen „Black Swan“ dank der naturimitierenden Darstellung und des zauberhaften Witzes in lebhafter Erinnerung bleibt. Der Ausschnitt aus „Der Kuss“ (Pforzheim) hinterließ Kopfschütteln ob der wenig schmeichelhaften Kostüme, hingegen faszinierte das Trio aus Budweis/Tschechien mit seinem geheimnisvollen Beitrag um Maschinenmenschen. Lorenzo Cimarelli, Tänzer und Choreograf aus Bremerhaven, beeindruckte mit seiner Sprungkraft, die Elemente des Street Dance integrierte. Zum ersten Mal dabei war die Tanzkompanie des Konzerttheaters Bern, die angereist war, um eine Szene aus ihrem aktuellen Stück „Callas“ zu zeigen, mit beeindruckenden Soli und fließenden Gruppenbildern.

Aus dem Rahmen fielen mit Sound, Kostümen und Tanzstil die Ensembles aus Gießen, Kassel und Trier. Die Tanzcompagnie Gießen trat komplett auf, mit einem Ausschnitt aus dem Poe-Stück „All we see“, in dem die Kombination mit Kampfsportbewegungen fasziniert. Die Kasseler präsentierten den mittleren Teil ihrer „Frühlingsopfer“-Interpretation, die von Ausgrenzung und Integration handelt. Schließlich die sechs Tänzer vom Ensemble Trier, die Tanztheater in der Folkwang-Tradition um interessante Bewegungskombinationen bereicherten. Dies sei eine Verbeugung an Susanne Linke, Urgestein der deutschen Tanzszene, wie der moderierende Tarek Assam sagte. Die wohl letzte Vertreterin des deutschen Ausdruckstanzes hat die künstlerische Leitung des Tanzensembles in Trier übernommen. „Movement never lies“ – das Zitat von Martha Graham, Mutter des Modern Dance, schwebte als Motto über der diesjährigen TanzArt ostwest.

 

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