„Die Geschichte von Blanche und Marie“ von Olaf Schmidt. Tanz: Wout Geers, Júlia Cortés.

„Die Geschichte von Blanche und Marie“ von Olaf Schmidt. Tanz: Wout Geers, Júlia Cortés.

„Die Liebe besiegt alles“

„Die Geschichte von Blanche und Marie“ von Olaf Schmidt beim Lüneburger Ballett

Wie Olaf Schmidt das Verbindende dieser beiden Persönlichkeiten heraushebt, aber auch das Trennende, und wie sich über alles der Trost der unzerstörbaren Liebe legt, das ist schon sehr besonders.

Lüneburg, 15/01/2017

Manchmal sind es gerade die kleinen Theater, die ganz Großes auf die Bühne bringen. Jetzt gerade wieder zu erleben in Lüneburg, unmittelbar vor den Toren Hamburgs. Seit nunmehr fast vier Jahren mischt Olaf Schmidt die dortige Tanzszene bravourös neu auf. Was sich zum einen an diversen aufsehenerregenden Produktionen festmachen lässt, vor allem aber daran, dass die Auslastung beim Ballett zurzeit eine Zuwachsrate von 40 Prozent zu verzeichnen hat. Die Lüneburger haben ihren Ballettdirektor und seine 10-köpfige Kompanie in ihr Herz geschlossen, die Vorstellungen sind sehr gut besucht – und inzwischen oft sogar ausverkauft. Olaf Schmidt dankt es mit aufsehenerregenden Produktionen, die jeder großen Bühne zur Ehre gereichen könnten (siehe auch: „Orestie“ und „Drei Schwestern“ sowie das Interview mit Olaf Schmidt).

Wie jetzt wieder mit der Uraufführung von „Die Geschichte von Blanche und Marie“, zu der Lüneburgs Generalmusikdirektor Thomas Dorsch eigens eine sehr tanzbare geschmeidige Musik komponierte (von den Lüneburger Symphonikern differenziert und sehr einfühlsam gespielt). Die Grundlage des Stücks ist „Das Buch von Blanche und Marie“, ein Roman des schwedischen Autors Per Olov Enquist. Es ist die Geschichte zweier höchst unterschiedlicher Frauen, zweier gescheiterter Lieben, die über Krankheit und Zerstörung erzählt werden. Über allem steht das Motto, das Enquist in seinem Roman Blanche und Marie zuordnet: „Die Liebe besiegt alles.“ Und so ist auch dieses Ballett letztlich eine Geschichte über die unzerstörbare Macht der Liebe.

Blanche Wittman (1859-1913) war lange Zeit Patientin im Pariser Hôpital de la Salpêtrière. Das schlossähnliche Gebäude, im 17. Jahrhundert auf dem Gelände einer Salpeter verarbeitenden früheren Munitionsfabrik gebaut, war eine Verwahranstalt für bis zu 8000 Menschen, vorwiegend solche, die man in der Gesellschaft damals nicht so gerne zu Gesicht bekommen wollte – Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung, Alte, Kranke, Bettler, Prostituierte sowie Gestrandete aller Art. Später, Ende des 19. Jahrhunderts, wurde das Salpêtrière ein Zentrum der Psychiatrie (heute beherbergt es Teile der Universität), mit einem Schwerpunkt auf der sogenannten „gynäkologischen Hysterie“ (auch Sigmund Freud hat dort studiert). Behandelt wurde mit Elektroschocks, Zwangsjacken, und einem folterähnlichen Instrument namens „Ovarienpresse“. Damit wurden bestimmte Punkte am Bauch der Frau gedrückt, worauf diese einen hysterischen Anfall erlitt – Methoden, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Berühmt wurden die immer dienstags im hauseigenen Amphitheater abgehaltenen öffentlichen Vorlesungen des Neurologen Jean-Martin Charcot (1825-1893). Eine seiner Vorzeige-Patientinnen war Blanche Wittman. Sie verliebt sich in ihn und er sich in sie – und natürlich ist diese Liebe zum Scheitern verurteilt. Nicht nur, weil Blanche Charcots Patientin ist, sondern auch, weil Charcot eine angeborene Herzschwäche hat, die ihm jede körperliche Leidenschaft verbietet. Und so stirbt er im Anschluss an den Liebesakt, den sich die beiden dann doch endlich einmal zugestehen.

Marie Curie (1867-1934), die Entdeckerin des Poloniums und Radiums, erlebt eine symbiotische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit dem Physiker Pierre Curie, mit dem sie ihren ersten Nobelpreis für Physik erhält, der 1906 jedoch tragisch an einem Verkehrsunfall stirbt. 1910 beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit einem früheren Assistenten ihres Mannes, Paul Langevin, der jedoch verheiratet ist. Die Affäre fliegt auf, weil Pauls Frau die Liebesbriefe der beiden in deren gemeinsamer Wohnung entdeckt und der Presse zuspielt. Fast hätte das Marie sogar den zweiten Nobelpreis für Chemie gekostet, der ihr 1911 verliehen wurde, und die beiden beenden ihre Liaison. In den Folgejahren wird Blanche, die nach dem Tod Charcots die Salpêtrière verlässt, ihre Assistentin. Sie arbeitet in deren Labor mit hoch radioaktiven Substanzen, weshalb sie mit der Zeit beide Beine und einen Arm verliert und schließlich stirbt. Marie lebt weiterhin für ihre Wissenschaft und stirbt 1934 ebenfalls an den Folgen der Strahlenkrankheit.

Er habe schon immer mal ein Stück mit verrückten Frauen choreografieren wollen, sagte Olaf Schmidt in einer Einführungsmatinée zu seinem neuen Stück. Das habe etwas Existenzielles, das sich gut im Tanz darstellen lasse. Und tatsächlich gelingen ihm gerade diese Tanzszenen mit den ‚Verrückten’ besonders eindrücklich, sowohl in den Ensembles wie auch in einigen atemberaubenden Soli und Pas de Deux. Zum Beispiel dem einer Patientin, deren Bewegungsspielraum von einer eigens in der Requisite zusammengeschmiedeten martialischen Ovarienpresse drastisch eingeengt wird – eine Schwierigkeit, die die blutjunge Gabriela Luque grandios meistert und die Zuschauer komplett in Bann schlägt. Ebenso in der Figur der Jane Avril, die später als Tänzerin im Moulin Rouge und Muse des Malers Henri de Toulouse-Lautrec berühmt wurde. Auch sie war eine Bewohnerin der Salpêtrière, flatterte schmetterlingsgleich durch deren Katakomben und trug auch den Spitznamen „das Kaninchen“. Schon dort führte sie kuriose Tänze auf. So gab es in der Salpêtrière einen Maskenball, bei dem alle zum „danse fou“ zusammenkommen, einem Vorläufer des späteren Can-Can. Júlia Cortés gibt dieser Jane die Sporen, dass die Funken nur so fliegen – großartig!

Schräge Soli hat Olaf Schmidt auch für die Figur des Albert Einstein choreografiert, der seinerzeit Marie Curie unterstützte und sie mehrfach traf. Die Eigenwilligkeit dieses Charakters setzte Schmidt kongenial in Bewegungen um – und Anibal dos Santos pfeffert diese komplizierten Schrittfolgen mit ihren vielfältigen Brüchen mit allergrößter Bravour auf die Bretter des Lüneburger Theaters. Raffiniert auch die Pas de Deux zwischen Charcot und Blanche, die bis auf ihre erste und einzige leidenschaftliche Begegnung am Schluss immer mit einem hauchdünnen Abstand tanzen. Claudia Rietschel als Blanche gestaltet hier, so scheint es, die Rolle ihres Lebens – und verleiht der Blanche eine anrührende Verletzlichkeit, aber auch eine tiefe innere Stärke. Wout Geers stattet den Part des Jean Martin Charcot anfangs mit einer wunderbar professoral-gockeligen Allüre aus, um im Verlauf des Abends immer verletzlicher zu werden, bis er schließlich der eigenen Sehnsucht nach Nähe und Liebe erliegt und sich – im Wissen des damit verbundenen Todes – Blanche hingibt.

Nicht minder berührend Giselle Poncet als Marie Curie und Wallace Jones als ihr Mann Pierre sowie Phong Le Thanh als Paul Langevin. Hervorzuheben ist hier vor allem ein Pas de Deux zwischen Marie und Pierre, der deren symbiotische Beziehung charakterisiert – eine Art Riesenmonster mit zwei Köpfen. Oder auch ein Pas de Deux zwischen Pierre und Marie, bei der beide der Faszination des neu entdeckten Radiums erliegen und ihr huldigen wie einer Monstranz auf dem Altar der Wissenschaft. Es muss damals schon eine besondere Magie ausgegangen sein von der Entdeckung der Radioaktivität mit all ihren Verheißungen. Im zweiten Teil gerät Olaf Schmidt die Geschichte ein bisschen zu plakativ – mit der Bettszene zwischen Marie und Paul, mit dem Auftritt der eifersüchtigen Ehefrau, mit dem Liebesakt zwischen Blanche und Charcot. Aber kurz darauf ist das alles wieder vergessen, wenn die beiden Frauen im Finale ihre Freundschaft leben. Körperlich zu Tode versehrt die eine, von der Gesellschaft gedemütigt trotz allen wissenschaftlichen Ruhms und alleine zurückgeblieben die andere. Wie Olaf Schmidt das Verbindende dieser beiden Persönlichkeiten heraushebt, aber auch das Trennende, und wie sich über alles der Trost der unzerstörbaren Liebe legt, das ist schon sehr besonders.

Manuela Müller hat mit den geringen Mitteln der Lüneburger Technik (alle fünf Züge müssen per Hand bedient werden!) eine wunderbar wandlungsfähige Bühne gezaubert, Claudia Möbius den TänzerInnen adäquate Kostüme auf den Leib geschneidert – das passt alles ganz prima zusammen. Und so wünscht man dieser kleinen, aber unglaublich feinen und technisch hervorragend aufgestellten Kompanie (und ebenso dem Ensemble von Oper und Schauspiel) endlich ein schöneres Haus. Wenn Hamburg in der Lage war, eine Elbphilharmonie zu stemmen, dann müsste es Lüneburg doch auch gelingen, in deutlich kleinerem und bescheidenerem Maßstab ein Theater zu bauen, in dem sich die Kunst noch besser entfalten kann als auf dieser Bühne eines ehemaligen Kinos mit all ihren Beschränkungen.
 

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