Das große Fressen

Uraufführung von MS Schrittmacher im Theaterdiscounter Berlin

Produziert unser Wohlstand das Leid auf der Welt, fragt eine Comicfigur in „HEIMATFRONT. Das Desaster lässt grüßen“ – den Diskurs wollen die drei Figuren nicht führen. Die Frage nimmt ihnen die Luft, sie fallen in sich zusammen.

Berlin, 22/11/2016

Töne aus Schuberts Winterreise wandern im Raum, in dessen Mitte ein bunter Menschenklops auf einem Gummisofa schläft. Bunte Werbeflächen wabern über die aneinander gepressten Körper von Vater (Jorge Morro), Mutter (Antje Rose) und Sohn (Nicky Vanoppen). Die Glieder entgleiten ihnen, wie festgezurrt hängen sie am Schlafplatz. Prokofjews Tanz der Ritter zeigt nur menschliches Elend im balletteusen Frohsinn. Zum Walküren-Ritt kleidet der Sohn den Vater mit Trainingsjacke und Brille 'Made in France'. Die Musik-Collage von Albrecht Ziepert liefert Ohrwürmer, überblendet in neuen Kontexten, und folgt damit einer Dramaturgie (Hartmut Schrewe), der bewusst grob montierten Gegensätze und grellen Outfits (Ausstattung: Anike Sedello).

Die Drei wiegen sich im Walzersound der Geschichten aus dem Wiener Wald, während im Hintergrund Playmobil-Figuren eine Strandlandschaft mit Palmen, Giraffe, Löwen, Püppchen auf Liegestühlen formen, beäugt von einer prähistorischen Echse (Videodesign: Erato Tzavara). Bekannte Gesichter schmatzen und grunzen aus dem Plaste-Fernseher im Boot; den Sohn würgt es. Sein Erbrechen über der Klobrille wird kontrastiert durch ein Wohlstandsurlaubs-Duett der Eltern. Im Bademantel über goldenem Outfit prosten sie einander zu wie im Werbespott mit Sekt aus Dosen, in die Landschaft weggekickt, zu. Knackende Snacks und angelernte Sexposen. Heile Ehewelt wie im Herz-TV; doch sie quieken, gurgeln, sägen, spreizen die Beine mit Füßen in Goldschuhen ohne jedes Körpergefühl. Der Sohn taumelt unter einem Berg von Billigklamotten. Das Sofa wird zum Wühltisch im 'Rendezvous der Sinne'; auf Giraffe und Co schneit der Wohlstandsmüll und begräbt die Märchenszenerie.

Manchmal wirkt die Performance überhetzt, doch es sind die kleinen Bewegungen, die Bedeutung generieren, etwa wenn Jorge Morro unmerklich aus der Achse fällt, sich krümmt, ratlos auf dem stillen Örtchen sitzt, während sich Antje Rose an Kleiderbergen und Plastikflaschen abarbeitet.

Selbst der eigenen Sprache sind diese Karikaturen beraubt. Ein beredter Einfall ist der off-eingespielte Dialog mit rückwärts gesprochenen Sprachfetzen, die von den Performern gestisch überzeichnet nur noch eine Ahnung von menschlicher Konversation geben. Sprachmüll. Produziert unser Wohlstand das Leid auf der Welt, fragt eine Comicfigur – den Diskurs wollen die drei nicht führen. Die Frage nimmt ihnen die Luft, sie schrumpfen, fallen in sich zusammen. Bei Martin Stiefermann werden Menschen zu leeren Hüllen.

So lümmeln sie nach dem Sturm wieder auf dem Sofa. TV-Licht flackert über ihre gesichtslosen Gesichter; sie glotzen in Agonie. Die apokalyptischen Reiter tanzen zum peitschenden Rhythmus ihren scharfen anschwellenden Marsch und das Dunkel löscht alle aus. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

In ihren Recherche- und Performanceprojekten fokussiert das Berliner Künstlerkollektiv MS Schrittmacher um den Choreografen Martin Stiefermann existenzielle Fragen der menschlichen Existenz zwischen Utopie und Dystopie. Die neue Tanz-Performance „HEIMATFRONT – Das Desaster lässt grüßen“, beheimatet im Privaten der Familie, ist ein böser Abgesang auf die menschliche Lernfähigkeit, eine grelle Farce des westlichen Wohlstandsbürgers, seiner zum Himmel schreienden globalisierten Gleichgültigkeit. Der sarkastische Grundton der ambitionierten Tanz-Performance hinterfragt mit bitterem Spott und Hohn unseren Lebensstil.
 

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