Die ungleichen Schwestern

Maria Eichwald und Lucia Lacarra in der Wiederaufnahme des „Nussknacker“

München, 18/09/2003

Spielzeiteröffnung mit John Neumeiers Version des so oft variierten St. Petersburger Klassikers: Die ersten drei Vorstellungen seit Wochen ausverkauft - auch in München interessieren sich die Zuschauer für das Ballett! Und es war wohl eine gute Idee der Ballettdirektion, das dreiteilige „Porträt John Neumeier“, in dieser Spielzeit mit zwei seiner Bestseller zu umrahmen: drei Mal mit dem „Sommernachtstraum“ und zwölf Mal bis Januar mit eben diesem „Nussknacker“, ehe ab Februar „Die Kameliendame“ dazukommt. Die „Porträt“-Reihe des Bayerischen Staatsballetts, in der während der Spielzeit 2003/04 auch Jirí Kylián und Mats Ek (neu) gezeigt werden, wird dadurch auf eine andere Ebene gehoben, erfährt eine Vertiefung und - egal wie man zu dieser Neumeier-Dominanz im Spielplan stehen mag - das Publikum ist schlagartig mobilisiert und füllt das Haus vom ersten Tag an bis auf den letzten Platz.

Mit der „Nussknacker“-Serie ist eine Menge wichtiger Debuts verbunden. In der Besetzung, die jetzt die Wiederaufnahme tanzte, hinterließen die Protagonisten einen starken Eindruck. Luise, Maries ältere Schwester und Ballerina des Hoftheaters, wurde von Lucia Lacarra mit überlegener Technik als Verkörperung einer kühlen, der Perfektion verpflichteten Tänzerin zelebriert, wie es dem richtigen Verständnis dieser Rolle entspricht. So wenig Atmung ihr vollendeter Ballerinenkörper sichtbar machte, so wenig wagte man selbst zu atmen, als sie in der „Probe“ ihre Variation mit Drosselmeier an der Stange tanzte. Neben ihr tanzte Cyril Pierre einen hoch motivierten, sich dem Publikum charmant öffnenden Günther, drehfreudig mit hohen Sprüngen und sicherer Kontrolle, zwar nicht mit dem tänzerischen Dynamit der ganz Großen, doch stattlich anzusehen, gut spielend und Maries verliebte Schwärmerei für ihn leicht verständlich machend - ein Tänzer, der nicht nur als perfekt eingespielter Partner Lacarras, sondern aufgrund seiner ganzen Erscheinung für das Ensemble ein Gewinn ist und, an den Münchner Anforderungen wachsend, sich technisch auf einem aufsteigenden Ast befindet.

Erstmals als Erster Solist auf der Bühne debütierte der junge Roman Lazik gleich als exaltiertes Petipa-Alter-Ego, als Ballettmeister Drosselmeier. Technisch bewältigte er diese extrem schwierige Partie mit seinen langen Beinen, raumgreifenden Sprüngen und schöner Linie glänzend, aber darstellerisch realisierte er zunächst nur einen Bruchteil der darin angelegten Möglichkeiten. Dennoch: Wenn irgendeine Rolle geeignet ist, diesen introvertierten Tänzer wachzuküssen, ist es diese; und weil Lazik gute Ansätze zur Entwicklung szenischer Phantasie zeigte, kann man auch als Skeptiker hoffen, dass er einmal aus sich herausgehen wird und es sich für seine Zukunft als geschickt erweist, dass Ivan Liska ihn als Drosselmeier besetzt hat. Umgeben von diesen drei Charakteren träumt Marie in Neumeiers Version den Traum, erwachsen bzw. eine Tänzerin zu werden. Maria Eichwald füllt diese Rolle mit so viel frischem Leben, als erzähle sie guten Freunden ihren eigenen Traum. Dabei fühlt sie sich auf der Bühne so wohl, dass sie im kindlich-triebhaften Nachahmen manchmal etwas zu viel tut. Wenn andere Solisten im Fokus stehen, sollten Marie und Drosselmeier sich am besten gar nicht bewegen, denn Eichwald hat eine solche Präsenz, dass sie mit einer bloßen Neigung des Kopfes allen und jedem die Aufmerksamkeit nimmt. Sie ist aber auch zu bezaubernd: Da zeigt ihr Drosselmeier eben etwas und wenige Sekunden später tanzt sie mit hohen Beinen gestochen scharf die ideale Bewegung, so dynamisch und mühelos, dass man verblüfft ist! Bei ihrer Variation im Grand Pas de deux führte sie - ständig im Kontakt mit Drosselmeier und Günther - auch in den größten technischen Schwierigkeiten durchgängig vor, wie sie sich (immer noch im Traum) erstmals als Tänzerin erlebt und über jedes Gelingen freut.

Eichwalds Leistung überstrahlte alles, auch dass das Ensemble noch nicht in der glänzenden Frühform des vorigen Jahres ist. Sie ist Lucia Lacarra, die zu Recht als Weltstar gilt, auch tänzerisch ebenbürtig. Beide Ballerinen unterscheiden sich aber in ihrer Ausstrahlung so grundsätzlich wie Luise und Marie. So nah wie Eichwald, bei der jede Bewegung wie eine Bewegung ihrer Seele wirkt, wird Lacarra dem Publikum nie kommen. Lacarra fasziniert, auf Perfektion zielend und alles über ihre Rollen wissend, die Zuschauer, indem sie distanziert bleibt und ihren virtuosen Tanz stilsicher mit klug gewählten Ornamenten schmückt. Mir würde es gefallen, wenn beide Künstlerinnen, einzigartig und verschieden, wie sie sind, beim Nussknacker-Applaus auch als Schwesternpaar vortreten würden und wenn sie auch in den kommenden Spielzeiten beide hier tanzten. Ein Gastvertrag für Eichwald - darum bitte ich Ivan Liska und Reid Anderson - könnte das möglich machen.

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