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Hannover
DIE POETISCHE KRAFT DER CHANCENLOSEN
Kyle Abrahams „Pavement“ ist ein berührendes Stück über den Großstadtdschungel
Wer eine Breakdance-Battle erwartet hatte, durfte überrascht sein. Kyle Abraham kommt zwar aus der Szene, aber was der Choreograf mit seiner Gruppe „Abraham.In.Motion“ bei Tanztheater international in Hannover zeigte, war ein ins Klassisch-Tänzerische ausgreifender Traum aus den Schluchten des schwarzen Pittsburgh. Dabei gibt der Titel „Pavement“ den harten Boden dieses Straßenpflasters vor, der mit Absperrgittern und Basketballkorb auf der Bühne Treffpunkt der Jugend ist. Und der den Schwarzen angewiesene Ort in einem sozial und rassisch deklassierten Stadtviertel: Immer wieder werden Tänzer mit dem Gesicht flach auf den Boden gelegt, die Hände auf dem Rücken verschränkt wie gefesselt.
Aber es geschieht dies mit einer merkwürdigen Zärtlichkeit, als wäre es Wiederkehr des Vertrauten, ersehnte Ruhe nach dem Kampf des Lebens, der hier immer und überall lauert. Abraham als Tänzer tut es einmal auch allein, als gäbe ihm die Lage Schutz. Wenn dazu traurige Barockarien erklingen und sich die Tänzer mit langgestreckten Bewegungen, kleinen Jetés und Drehungen einer oft synchronen Traumchoreografie hingeben, entsteht eine melancholisch berührende Atmosphäre, als erlebe man den Tod des einsamen Helden im romantischen Ballett.
Oft bleibt ein „Gefesselter“ noch lange liegen auf der Bühne, ohne dass sich die anderen weiter um ihn scheren, als gehöre es zum Alltag. Manchmal greift ihn einer auf, bringt ihn waagerecht vor sich wie in einer Pietà. Einmal aber wird der Geborgene vom Helfer wieder zurück auf den Boden gedrückt, als wäre es eine unablässige Bewegung des Sich-Auf-und-Abkämpfens in dieser Gesellschaft.
Dazwischen gibt es typische Rempeleien zwischen Kerlen, die aus freundschaftlichem Schubsen und Anboxen plötzlich in Ernst umschlagen können. Es gibt die unverschämt coolen Männergesten aus dem Hiphop bei Abraham, und eine Art legeres Dribbling ohne Ball beim Längsten der Kompanie. Und immer wieder Fluchtläufe, immer wieder Schreie, Sirenen, Hammerbeats, Stimmgewirr aus Filmen vom Band. Im Video wird ein Hochhaus gesprengt. Einmal wird die Bühne in das kreisende Rotlicht einer Ambulanz getaucht, Abraham schreit um Hilfe, die Tänzer im Dunkeln ziehen weiter ihre ruhigen Bahnen – eine gespenstische, emblematische Szene von der Einsamkeit des Einzelnen im Großstadtdschungel.
Es sind auch zwei Weiße in der Kompanie, aber nur anfangs sind sie diejenigen, die die Schwarzen auf den Boden zwingen. Jeder kann hier alles sein, Abraham hütet sich vor umgekehrtem Rassismus. Gegen Ende liegen alle in der Gefesselten-Pose auf dem Boden, teils zu dritt übereinander. Immer wieder arbeitet sich einer von unten hervor, schaut sitzend etwas verträumt ins Blaue – und legt sich wieder drüber. Es ist ein fast zärtliches Bild von der poetischen Kraft der Chancenlosen. Abraham hat die Wut einmal nicht hiphopgerecht in die Battle gepresst, sondern in eine trotzige Schönheit, die ergreift.
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