„It Is Passing By“ von Wun Sze Chan

„It Is Passing By“ von Wun Sze Chan

Vielfältige „Young Moves“

Choreografischer Nachwuchs beim Ballett am Rhein

Eindeutig toppt So-Yeon Kims „Zahir“ die erfreulich unterschiedliche Reihe der Kurzchoreografien dieser Premiere im Theater Duisburg.

Duisburg, 20/06/2016

Nun räumt auch Martin Schläpfer - wie andere Ballettdirektoren in Deutschland - seinen Tänzern eine Plattform für erste Choreografieversuche ein. Explizit tritt er damit in die Fußstapfen der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, die seit über 40 Jahren - und in ihrer Konsequenz und Großzügigkeit noch immer unerreicht - den choreografischen Nachwuchs aus den eigenen Reihen fördert. Hatte er bisher Antoine Jully, Jörg Weinöhl und Martin Chaix persönlich unterstützt und ihre Choreografien in seine Programme neben Meisterwerke der ganz Großen gestellt, so ist die letzte Premiere dieser Spielzeit mit dem Titel „Young Moves“ vollständig sechs Choreografie-Neulingen aus den Reihen des Ballett am Rhein vorbehalten. Aber der Ballettchef gibt ein Signal: bei So-Yeon Kims "Zahir" gewährte er Choreografische Assistenz.

Das ist nicht überraschend, formuliert doch hier eine junge, vielseitige Künstlerin aus Fernost das Ergebnis eines zehnjährigen Reifungsprozesses ihrer 20-minütigen Choreografie und gibt die ‚Zutaten’ aus ihren Erinnerungen, Gefühlen und Erfahrungen mit berührender Ehrlichkeit preis: „Dieses Ballett ist alles, was ich liebe.“ Sie liebe Tanz, Musik, Farben, Malerei, Literatur und „möchte dies alles miteinander verbinden mit meiner Liebe zum Violoncello“, das sie selbst auch spiele. Nur eins sagt die Koreanerin nicht, weil sie es vielleicht gar nicht wahrgenommen hat: wie sehr sie die Reinheit und perfekte Struktur der Ballette Hans van Manens liebt und verinnerlicht hat (auch wenn sie bei keiner der van Manen-Premieren seit Beginn ihres Engagements 2009 tanzte, im ‚Hause Schläpfer’ ist der Holländer stets präsenter, hochverehrter Doyen).

Eine Erbin Hans van Manens?
Sogar Solokompositionen des von van Manen für das Ballett favorisierten Barockkomponisten Johann Sebastian Bach geben Kims auch erzählerisch mehr als ansprechendem Ballett das klangliche Rückgrat - freilich sind es die drei Cello-Suiten. Wohl aber zitiert sie van Manens „Solo“(auf eine Violin-Solopartita für drei Tänzer) in einer Sequenz für zwei Tänzer. Mit viel Charme und feinem theatralischen Gespür stellt Kim der Fünferreihe markiger Männer in langen schwarzen Hosen (Chiffre für die fünf Notenlinien) eine auch farblich zauberhafte Dreiecks-Liebelei gegenüber, zu der sie Paolo Coelhos Bestseller „Der Zahir“ und Gustav Klimts Affäre mit Emilie Flöge inspirierte. Die rothaarige Ann-Kathrin Adam ist eine atemberaubend sinnliche Schönheit zwischen dem zärtlichen, verlassenen Lover Sonny Locsin (im ahnungslos unschuldigen weißen Hemd) und dem rassigen Verführer Chidozie Nzerem (im strengen Businesssuit). Für das Bühnendesign - drei unregelmäßig schraffierte Rechtecke unterschiedlicher Farbe und Größe schweben beim Auftreten der drei Solisten - hat Kim selbst entworfen, das hauchzarte Kleid und die Männerkostüme Kevin Gamez. Eindeutig toppt So-Yeon Kims „Zahir“ die erfreulich unterschiedliche Reihe der Kurzchoreografien dieser Premiere im Theater Duisburg.

Klassisches Muster: Gruppe und Solo
Die Spannung zwischen Gruppe und Individuum interessiere sie, so erklärt Louisa Rachedi den Ansatz zu ihrem Großstadtballett „Fieldwork“, das den eindrucksvollen Abschluss des ersten Teils der Premiere bildet. Sehr individuell und mit viel Fantasie hat sie selbst die Kostüme und die Bühne gestaltet. Wogende, wippende, sich schnell bewegende Cluster wechseln mit einzelnen Menschen und Paaren. Zum Schluss scharen sich alle um einen am Boden liegenden schwarzen Körper links vorn - Rashaen Arts nach seinem furiosen Solo? Rechts hinten bäumt sich Yuko Kato gegen ihre Einsamkeit auf.

Videos vom Alltag in einer Stadt verwendet Wun Sze Chan für „It Is Passing By“. Alle Tänzer betreten die Bühne in Businesskleidung durch den Zuschauerraum und nehmen ein Paar aus dem Publikum mit. Eine junge Frau (Christine Jaroszewski) mit einer Einkaufstüte voller Kuscheltiere will sich zu dem (Eltern-)Paar drängen und ruft immer wieder verzweifelt: „Lasst mich durch!“ Aber es gibt keine Rückkehr in die Geborgenheit der Kindheit - so jedenfalls kommt der Plot der Chinesin auf das „Lullaby“ des Amerikaners Moondog über.

Perfekte Harmonie
Wie ein musizierendes Kammertrio bewegen sich wunderbar harmonisch, einheitlich und trotzdem jeweils mit eigener Stimme Christine Jaroszewski, Anne Marchand und Virginia Segarra Vidal in Boris Randzios „Mindrift“ auf Bratschenmusik von György Kurtág. Geschickt lavieren die drei sportlich gekleideten Freundinnen zwischen zwei Masten, die - orange gepolstert - wie Pfosten eines Alpenlifts am Rande einer Skipiste aussehen, um schmerzhafte Zusammenstöße oder Berührungen zu vermeiden.

Von Pina bis Pilobulus
Der Rahmen ist unterhaltsam. Virginia Woolfs fantastischer Roman „Orlando“ gab Alban Pinet den Anstoß zu seinem etwas geziert verdrehten „Odnalro“. Ein Tanz-Viertelstündchen à la Pina Bausch ist dabei herausgekommen - mit Kleiderständern voller Roben und schillerndem Fummel, schwarz lackierten Stühlen und Musik aus den 1920er Jahren und Herren als Damen wie in „Kontakthof“. Musikalisch fetzig unterfüttert von Michael Torkes Konzert für Schlagzeug und Orchester aus „Rapture“ (Entzücken) lässt Michael Foster seiner Tanzleidenschaft freien Lauf. „Es geht um tanzen, tanzen, tanzen“, hat er den fünf Tänzerinnen und drei Tänzern seines Rausschmeißers gesagt. Die lassen sich das natürlich nicht zweimal sagen - und tanzen, tanzen, tanzen wie eine Truppe vom Kaliber der „Shadowland“-Silhouetten von Pilobolus oder dem kubanischen Salsa-Temperament von Revolución.

Es tut gut, dass Schläpfer „Young Moves“ wagte. Die Fortsetzung ist in der neuen Saison schon festgezurrt. So-Yeon Kim, Boris Randzio, Michael Foster und Wun Sze Chan werden wieder dabei sein. Sonny Locsin und Chidozie Nzerem sind die Novizen. Fehlt nur noch das Gremium aus den Reihen der so generösen Ballettfreunde, das sich ganz der choreografischen Förderung widmet - so eine Art „Erich-Walter-Gesellschaft“, um an ein glorreiches Kapitel der neueren Ballettgeschichte in Deutschland und an der Deutschen Oper am Rhein zu erinnern.
 

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