„Salome“ von Demis Volpi. Tanz: Elisa Badenes, Miriam Kacerova, Roman Novitzky

„Salome“ von Demis Volpi. Tanz: Elisa Badenes, Miriam Kacerova, Roman Novitzky

Abgründe des Verlangens

Demis Volpi präsentiert mit „Salome“ sein zweites abendfüllendes Handlungsballett für das Stuttgarter Ballett

Verdienter großer Jubel für einen inhaltsschweren, begeisternden Abend.

Stuttgart, 12/06/2016

Schon gleich nach dem großen Erfolg „Krabat“ im Jahr 2013 beauftragte Stuttgarts Ballettintendant Reid Anderson bei Demis Volpi ein weiteres Handlungsballett. Volpis Wahl fiel auf „Salome“. Der Einakter von Oscar Wilde hatte es ihm schon seit geraumer Zeit angetan, er sei, so erzählte Vivien Arnold, Direktorin für Kommunikation und Dramaturgie, bei der Einführung vor der Premiere, „dieser Frau verfallen, wie so viele andere“. Zwei Jahre ging Volpi mit dem Stück schwanger – am vergangenen Freitag wurde es nun in Stuttgart uraufgeführt.

Volpi hält sich streng an die Vorlage von Oscar Wilde (1854-1900), die sich in wesentlichen Punkten von der biblischen Geschichte unterscheidet: Zum einen gibt es eine Begegnung zwischen Salome und dem von Herodes in den Kerker geworfenen Propheten Jochanaan (alias Johannes der Täufer). Salome, die Jochanaans klagende Stimme hört, veranlasst den heftig in sie verliebten jungen Syrier aus dem Hofstaat ihres Stiefvaters Herodes, Jochanaan zu holen, obwohl das streng verboten ist. Bei dieser Begegnung entflammt in dem bis dahin keuschen und verwöhnten Prinzesschen erstmals das Begehren – sie möchte den Mann unbedingt küssen. Jochanaan indes weist sie schroff zurück, ganz seinem Gott und niemand anderem hingegeben, und kehrt freiwillig in den Kerker zurück. Salome muss erstmals hinnehmen, dass ihr ein Wunsch abgeschlagen wird. Zum anderen ist bei Oscar Wilde Salome die Handelnde, nicht, wie in der Bibel, ihre Mutter Herodias. Sie manipuliert Herodes; sie spielt mit ihm und seinem inzestuösen Begehren; sie verlangt die Erfüllung eines Wunsches, wenn sie für ihn tanzen soll. Herodes, vor Lüsternheit nicht mehr ganz bei Verstand, gewährt ihr das und stellt ihr damit einen Blankoscheck aus. Der berühmte „Tanz der sieben Schleier“, den Salome daraufhin vor Herodes aufführt, ist eine Erfindung Oscar Wildes, wobei er aber völlig offen lässt, wie dieser Tanz aussieht und ob Schleier dabei tatsächlich eine Rolle spielen. Jede „Salome“-Adaptation hat deshalb für diese Szene eine eigene Interpretation. Was Salome sich dann wünscht – „zu meiner eigenen Lust will ich den Kopf des Jochanaan in einer Silberschüssel haben“ – ist für die damalige Zeit ebenso skandalös wie revolutionär. Wilde macht aus dem Objekt Frau ein Subjekt mit eigenen Wünschen und Begierden. Salome will Jochanaans Kopf, um ihn zu küssen, zu besitzen, ihre Lust zu befriedigen. Aus dem verwöhnten Gör ist eine selbstständige junge Frau geworden, die erstmals ihre eigene Sexualität spürt, die erlebt, welche Macht sie hat und das voll ausspielt.

Das zentrale Element bei Oscar Wilde ist das ungestillte und unerfüllte Verlangen seiner Protagonisten und die damit verbundenen Abgründe, die sich auftun: der Page der Herodias begehrt den jungen Syrier, dieser jedoch schmachtet für Salome; sie will Jochanaan, während Herodes Salome in sein Bett holen möchte. Keine/r von ihnen bekommt, wonach ihn/sie gelüstet. Demis Volpi hat diese Vorlage in eine grandiose tänzerische Dramatik übersetzt, die über die gesamten 90 Minuten (ohne Pause) einen großen Spannungsbogen hält. Einer seiner wichtigsten Kunstgriffe besteht darin, zwei Elemente aus Oscar Wildes in Personen zu verwandeln: den Mond, Projektionsfläche für Sehnsüchte und Fantasien, und den Todesengel, der den paranoiden Herodes – selbst mit genügend Leichen im Keller ausgestattet – immer wieder heimsucht.

Es ist dieses Mondwesen, das das gesamte Stück durchwebt und immer wieder mit einem heiligen Atem überhaucht, ihm jede Trivialität nimmt. Alicia Amatriain erfüllt diese tragende Rolle mit einer atemberaubenden Würde und Eleganz, mit Ernst und Hingabe. Wie sie sich ganz am Anfang embryonengleich aus dem silbrigen Gespinst in einer Sichel schält, nur von einem diffusen Lichtkegel bescheint (für die geniale Lichtregie zeichnet Bonnie Beecher verantwortlich), wie sie dann verstörend langsam die riesige schwarz glänzende Treppe, die den gesamten Bühnenhintergrund ausmacht, in Besitz nimmt, mit zeitlupenhaften weit ausgreifenden Bewegungen, in sich versunken und raumumspannend, wie sie das ganze Geschehen durchgeistigt – das erfordert eine schon fast überirdische 90minütige Konzentration und Präsenz. Alicia Amatriain vermag beides äußerlich gänzlich unangestrengt aufzubringen – schon das allein ist phänomenal.

Aber auch die gesamte Dramaturgie ist in sich schlüssig. Elisa Badenes, in Kurzhaarperücke und Latex-Body (Kostüme und Bühnenbild: Katharina Schlipf), zeichnet die Entwicklung der Salome vom Mädchen zur Frau mit großer Intensität und Natürlichkeit. Den Höhepunkt des Stücks, den Demis Volpi vom Schleiertanz (der bei ihm ein vergleichsweise kleines Tänzchen mit einem Apfel als Symbol der Versuchung ist) in den orgiastischen Tanz Salomes mit dem Kopf Jochanaans verlagert, erfüllt sie mit großer Selbstverständlichkeit. Das hat nichts Abstoßendes oder Obszönes, sie muss das einfach tun. Auch dass, und wie sie dabei zum Höhepunkt kommt, hat eine logische Natürlichkeit. Umso mehr, als Demis Volpi diesen Liebestanz nicht mit dem Orgasmus enden lässt, sondern ihm noch ein langes, zärtlich-intimes Nachklingen gönnt, bis die Schlächter des Herodes dann auch sie umbringen – ihre selbstbestimmte Haltung kann Herodes nicht ertragen. Wohl selten hatte eine Salome so viel Menschlichkeit, so viel selbstbewusste Fraulichkeit an sich bei aller Unmenschlichkeit des Vorgangs.

Aus dem Hofstaat von Herodes und Herodias macht Volpi eine Art Swingerclub, zwei aufreizend gekleidete Sklavinnen balancieren große Körbe mit Äpfeln auf ihren Köpfen. Das kann man mögen oder auch nicht – es passt auf jeden Fall zu Oscar Wildes Vorlage, und vor allem als Rahmen zum Gesamtgeschehen. Herodes im goldenen Rollstuhl ist ein skurriler Alter mit rotem Samtjackett und Sonnenbrille, den immer wieder 12 in schwarz glänzende Ganzkörper-Latextrikots gehüllte düstere Gestalten heimsuchen – der Todesengel als zwölffaltige Erscheinung. Roman Novitzky als Herodes muss zwar nicht tanzen, dafür umso mehr darstellen – was ihm vortrefflich gelingt. Herodias (Miriam Kacerova) im türkisfarbenen Outfit mit schwarzem Kleopatra-Pagenschnitt gibt die gelangweilte Gattin, die sich mit diversen Herren des Hofstaats vergnügt. David Moore ist der an der Welt verzweifelnde Jochanaan, der sich vorwiegend zwischen dem Kerkergestänge der immer wieder hoch fahrenden Unterbühne durchwinden muss und nur in der ersten Begegnung mit Salome relevante Tanzpassagen hat. Wo immer er auftaucht, tut er das allerdings mit großer Präsenz und bezwingender Innerlichkeit. Özkan Ayik ist der Page der Herodias, Martí Fernandez Paixa der junge Syrier – und füllen diese Rollen exzellent.

Man mag bemängeln, dass die Choreografie nicht unbedingt sehr vielfältig ist, die Bewegungsmuster wiederholen sich häufig. Oder, dass es für die Tänzer nicht unbedingt viel zu tun gibt – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Dennoch passt alles zusammen – gerade durch diese Reduktion auf das Wesentliche.

Einer der größten Trümpfe dieser „Salome“ ist neben der schlüssigen Inszenierung die kongenial zusammengestellte Musik, die Demis Volpi nach dem Libretto von Vivien Arnold aussuchte. Er entschied sich für Teil I und II aus „The Dharma at Big Sur“ des zeitgenössischen amerikanischen Komponisten John Adams, ergänzt durch Werke von Vladimir Martynov (Schubert Quintett, I. Satz) und Tracy Silverman, der auch für fünf Vorstellungen selbst den schwierigen Part auf der E-Violine mit ihren sechs Saiten übernimmt. Bei der Begegnung zwischen Salome und Jochanaan erklingt „Fertility Rites“, der Kehlengesang der Inuit, ein Werk von Christos Hatzis, das im Surround-Modus nahezu gespenstisch anmutet. Als musikalischen Ausdruck von Salomes Wunsch nach Jochanaans Kopf komponierten Philippe Ohl und Thomas Höfs, die Schlagzeuger des Staatsorchesters Stuttgart, mit „Phobia“ wuchtige Paukenschläge. Salomes Tanz mit Jochanaans Kopf bestreitet wiederum John Adams mit dem III. Satz aus dem Violin Concerto, während der II. Satz aus Martynovs Schubert Quintett den Abschluss bildet. Das Staatsorchester Stuttgart unter James Tuggle meistert alle diese Herausforderungen bravourös.

Weitere Aufführungen am 15., 17., 19., 21., 23., 25., 26. Juni sowie am 2. und 7. Juli 2016
 

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