Olaf Schmidt
Olaf Schmidt

„Mein Blick ist klarer geworden“

Olaf Schmidt, Ballettdirektor am Theater Lüneburg, im Gespräch mit Annette Bopp

Nachdem er in Kaiserslautern, Karlsruhe und Regensburg die Ballettsparten leitete, ist Olaf Schmidt nun in Lüneburg angekommen und spricht über seine Erfahrungen und Pläne.

Lüneburg, 12/01/2016

Nunmehr in der dritten Spielzeit prägt Olaf Schmidt die Tanzszene in Lüneburg. Unmittelbar vor den Toren Hamburgs mit dem weltberühmten Hamburg Ballett unter John Neumeier hat er dem Theater mit seiner zehnköpfigen Tanzkompanie zu einem beachtlichen Ruf verholfen. Ob „Kaspar Hauser“, mit dem er in der Spielzeit 2013/14 einen fulminanten Einstand gab, oder den „Drei Schwestern“ in der Spielzeit 2014/15 – es grenzt schon an ein kleines ‚Ballettwunder‘, was er sowohl aus der kleinen Bühne des Theaters, das in einem ehemaligen Kino zuhause ist, als auch aus seinem zehnköpfigen Ensemble (sechs Männer, vier Frauen) herauszuholen vermag. Annette Bopp sprach mit ihm über seine Arbeit und die am 16. Januar 2016 bevorstehende Uraufführung der „Orestie“ – wiederum ein überaus ambitioniertes Projekt, über das wir noch gesondert berichten werden.

Wie fühlen Sie sich inzwischen hier im Norden und speziell in Lüneburg?
Sehr gut! Anfangs hatte ich ein paar Eingewöhnungsschwierigkeiten, aus dem süddeutschen Raum hier im Norden anzukommen. Aber seit dieser Spielzeit fange ich an, mich zuhause zu fühlen.

Worin bestanden die Eingewöhnungsschwierigkeiten?
In den achteinhalb Jahren bin ich in Regensburg heimisch geworden und war dort am Theater auch sehr glücklich. Es lief gut für mich, es sind ein paar ganz tolle Arbeiten entstanden. Der Abschied hat am Schluss dann doch weh getan, auch wenn es normal ist, dass mit einem neuen Intendanten eine neue künstlerische Führungsriege kommt. Wir hatten uns ein Publikum aufgebaut, mit dem ich relativ weit gehen konnte. Ich hatte erzählerisch angefangen und konnte dann mit der Zeit auch verrücktere Sachen machen. Das lief sehr gut, alle haben mitgezogen, es hat Spaß gemacht. So etwas aufzugeben, ist nicht so leicht. Als ich dann hierherkam, hatte ich das Gefühl, ich fange wieder bei Null an. Die Bereitschaft für ein modernes Tanztheater schien mir bei der breiten Publikumsmasse noch nicht so vorhanden.

Es ist Ihnen jetzt aber doch gelungen, diese Bereitschaft hervorzurufen und zu fördern?
Ja, der Zuspruch ist jetzt da. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass ich Workshops und Werkstätten gemacht habe, um in einen engeren Kontakt mit dem Publikum zu treten. Es kostet zwar ein bisschen Überwindung, sich quasi in die Küche schauen zu lassen, aber ich erfahre dabei sehr viel über mich selbst. Ich arbeite ja immer sehr intuitiv. Der Austausch mit den Zuschauern setzt bei mir tatsächlich oft einen Erkenntnisprozess in Gang.

Sie arbeiten jetzt gerade an der „Orestie“, die am 16. Januar Premiere haben wird. Wie nähern Sie sich einem so großen und umfassenden Thema? Noch dazu auf einer ja doch eher begrenzten Bühne?
An die Beschränkungen denke ich überhaupt nicht. Es ist eher eine Riesenmöglichkeit, so etwas machen zu können. Ich nähere mich dem Thema meistens über die Literatur. Ich lese, und dann entstehen in mir Bilder, bei denen ich denke, ich möchte das nochmal anders ausdrücken, als es im Schriftlichen geschieht. Es sind oft ganz kleine Denkansätze, die ich dann durch Bewegung zu vergrößern versuche. Es ist wie bei einem Kammerspiel: Wo ist der Kern, der mich am meisten interessiert? Und von da aus gehe ich weiter vor, baue das Stück aus und schaue: Was gibt es da noch alles? Dann verästelt sich das weiter.

Was hat Sie an der „Orestie“ interessiert, warum haben Sie sich dieses schwierige Thema vorgenommen?
Mich interessiert dieser Wahnsinn der Menschen, die aus verschiedenen Beweggründen ihre Angehörigen umbringen müssen. Was hatten sie für Vorgaben von den Göttern? Was fühlen sie da? Wie empfindet Klytaimnestra, wenn Agamemnon ihre Tochter opfern muss? Was bedeutet das? Mich haut das immer noch um, auf jeder Probe. Das begreifen auch die Tänzer. Nur wenige Stücke sind so existenziell wie diese „Orestie“. Mich interessiert vor allem, wie man das mit einer heutigen Bewegungssprache ausdrücken kann. Es gibt ja geradezu beängstigende Parallelen zu den Geschehnissen aus jüngster Zeit. Immer noch glauben Menschen, sie müssten andere Menschen töten, weil ein Gott es so gesagt hat. Insofern hat das Stück eine brennende Aktualität.

Wie können Sie ein so großes Thema, das in der griechischen Tragödie ja über viele Stunden geht, auf einen Abend konzentrieren?
Das Stück dauert etwa anderthalb Stunden, also zweimal eine dreiviertel Stunde. Auf diese Länge muss ich es komprimieren, was auch durch die Größe der Kompanie von zehn Tänzern bedingt ist. Mehr als zwei Stunden geht nicht – schon gar nicht bei der Intensität, die das Stück inhaltlich und tänzerisch verlangt.

Worin besteht für Sie der Kern dieses Werkes, worauf haben Sie es kondensiert?
Die Menschen werden gezwungen, Rache zu nehmen, und sind dann damit alleingelassen. Mich interessiert, wie ich das in Tanz, in Bewegung umsetzen kann. Das ist hoch emotional. Der politische Aspekt kommt dann noch dazu.

Welche Musik haben Sie für die Orestie ausgewählt?
Ich bin dem Intendanten sehr dankbar, dass wir es uns hier leisten konnten, auch ein paar teure Komponisten zu holen. Wir haben Stücke von Philip Glass und Peteris Vasks, einem zeitgenössischen finnischen Komponisten, der ganz unglaubliche Stücke für Streicher geschrieben hat. Von ihm haben wir ein ganzes Streichquartett. Außerdem haben wir noch Henryk Górecki mit dabei – und Richard Wagner.

Wie sind Sie auf diese Musikzusammenstellung gekommen?
Ich suche einfach. Damit verbringe ich Stunden und Tage. Bei der „Orestie“ war mir klar, dass es zeitgenössische Musik sein muss, da kann ich nicht im 19. Jahrhundert bei den Romantikern suchen. Bei den modernen Komponisten ist es schwierig, etwas Passendes zu finden, wenn man nicht das verwenden will, worauf alle choreografieren. Mit dieser Zusammenstellung bin ich jetzt sehr glücklich.

Wird das live gespielt?
Ja, für so ein Stück mit dieser Intensität ist das zwingend. Das Orchester mag das Ballett sehr. Bei „Kaspar Hauser“ hatte ich den Musikern einen ziemlichen Mix zugemutet und anfangs dachten sie, das könne nicht gut gehen. Sie waren dann alle erstaunt, wie toll das funktioniert hat. Seitdem habe ich sie auf meiner Seite!

Sie arbeiten hier in Lüneburg spartenübergreifend. Zum einen machen Sie so etwas Herausforderndes wie diese „Orestie“, wo Sie sich selbst und Ihre künstlerischen Ambitionen einbringen können. Aber Sie sind auch zuständig für Musical, Oper und Operette, für Weihnachtsmärchen und Kindertheater. Und dann gibt es noch die „Jungen Choreographen“ als Experimentierbühne. Wohin wollen Sie die Sparte Tanz in Lüneburg entwickeln?
Das Theater Lüneburg spielt Musical, Oper und Operette. Und dafür braucht es das Ballett. Wir können uns in einem Theater dieser Größenordnung für die Tanzszenen keine Extra-Tänzer leisten. Deshalb kann ich mich dem nicht verschließen – wie es viele meiner Choreografenkollegen tun. Aber ich habe ohnehin immer so gearbeitet und versucht, die Tanzszenen im Musical auf ein so hohes Niveau zu bringen, dass die Tänzer sich nicht schämen müssen, wenn sie dafür auf der Bühne sind. Sie empfinden das eher als willkommene Abwechslung. Ich habe junge Tänzer, die sich da ausprobieren können. Sie haben viel Spaß, sich darzustellen. Bei Operette und Musical sehe ich mich auch mehr als „Theatermacher“ und nicht so sehr als „Kunstmacher“. Wenn dabei dann Kunst entsteht, ist das natürlich toll!

Was meinen Sie mit „Kunstmacher“?
Es gibt Performances, die zwar ganz interessante Ansätze haben, bei denen man aber ratlos davorsitzt, wenn man vorher nicht das Programmheft durchgewühlt hat. Wobei man manchmal auch erstaunt ist, was in diesem Programm drinsteht. Selbst mit den größten Mühen findet man das auf der Bühne oft nicht wieder. Selbst ich als Fachmann verstehe den Zusammenhang oft nicht. Ich habe das Gefühl, dass da eher wild improvisiert wird. Das kann ja durchaus spannend sein, aber ich glaube, dass uns das eher das Publikum vergrault. Es hat zwar den Anspruch, Kunst zu sein, aber wenn es den Zuschauer nicht erreicht, bleibt es abstrakt und seelenlos.

Worauf kommt es Ihnen an mit Ihren Stücken, mit Ihrer Choreografie?
Ich versuche, mit dem Tanz etwas konkret auszudrücken. Für mich als Choreograf ist es wichtig, mit Bewegungen nicht Allgemeinplätze zu schaffen. Ich versuche, Dinge fokussiert zu erzählen, und trotzdem genügend Assoziationsfreiraum zu lassen. Meine Arbeit ist technisch ziemlich anspruchsvoll. Es ist eine moderne Linie auf klassischer Grundlage, die aber sehr menschlich ist und Tänzer erreichen soll, die daran hart arbeiten wollen.

Machen Sie alles vor oder lassen Sie Raum zur Improvisation?
Viele zeitgenössische Choreografen arbeiten mit improvisierten Sequenzen. Ich lasse das erst jetzt langsam ein wenig in meine Arbeit einfließen. Aber es fällt mir sehr schwer, Bewegungen von Tänzern zu nehmen, weil ich immer genau weiß, wie es nicht geht. Wie es geht oder gehen soll, weiß ich weniger. Und meistens bieten Tänzer an, was nicht geht – aus meiner Sicht. Deshalb habe ich oft Mühe damit. Aber bei einigen bemerke ich jetzt, dass sie inzwischen Bewegungssequenzen ähnlich empfinden wie ich. Oder sie überraschen mich mit etwas, wovon ich denke: Wow, wo geht denn das jetzt hin – das ist ja interessant, ich hätte nicht gewagt, das zu fordern. Meistens sind es die physisch brutaleren Dinge. Aber ich sage den Tänzern nicht, dass sie improvisieren sollen, ich bitte sie auch nicht darum. Ich zeige ihnen, was ich sehen will. Mein großes Vorbild darin ist Hans van Manen, der macht auch heute noch alles vor!

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Im Juni inszeniere ich in Lüneburg das „Weiße Rössl“. Darauf freue ich mich sehr, das ist eine schöne Abwechslung – ich habe ja schon öfter Oper und Musical inszeniert. Davor, im Mai, kommt noch ein dreiteiliger Tanzabend mit dem Titel „Flügelschlag“. Für einen der Teile konnten wir Orkan Dann als Gastchoreografen gewinnen, der bis zum Sommer 2015 Tänzer beim Hamburg Ballett war und sich als Choreograf bereits einen Namen gemacht hat. Das ist ein Stück über Schatten und Engel.

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich jetzt schon so lange als Choreograf arbeite und als Mensch an einem Punkt bin, wo ich merke, dass sich mein Körper stark verändert. Bis Februar 2015 habe ich noch selbst getanzt, und ich merke jetzt, dass der Körper abbaut. Um meine Kondition zu erhalten, müsste ich wahnsinnig viel tun, das musste ich früher nie. Mein Leben verändert sich gerade sehr extrem. Ich bin jetzt 53, da nähert man sich mehr den Schatten. Das meine ich gar nicht negativ oder melancholisch. Es ist einfach ein anderer Lebensabschnitt.

Wie gehen Sie damit um? Worin drückt sich das konkret aus?
Ich habe das Gefühl, dass ich seit kurzer Zeit anders schaue, dass ich Dinge anders aufnehme. Ich beobachte die Tänzer anders als früher und habe das Gefühl, dass ich jetzt viel schneller sagen kann, was ich möchte und was nicht. Mein Blick hat sich geändert, im Kleinen mit den Tänzern, aber auch im Großen in einer Produktion. Ich schaue analytischer. Das macht Spaß, weil ich dadurch viel effektiver arbeiten kann. Mein Blick ist viel klarer geworden.

Sie haben ja schon sehr viele Stücke kreiert, aber es gibt so gut wie keine Wiederholungen. Ist das Absicht?
Ja. Ich mache keine Wiederaufnahmen meiner Stücke aus den vergangenen zwanzig Jahren, obwohl da viel Gutes dabei war. Davor scheue ich zurück, denn ich langweile mich dann total auf den Proben – ich kenne das alles ja schon. Und ich habe keine drei Assistenten, die das einstudieren würden. Ich müsste mir alles aus Videos zurückholen, und dazu habe ich keine Lust.

Eine Ausnahme gibt es aber doch: den „Tanzdialog“ am 6. Februar. Was erwartet uns da?
Das ist eine Zusammenstellung von Pas de Deux und Duetten aus verschiedenen Stücken, die ich in Regensburg, Karlsruhe und Kaiserslautern gemacht habe. Sie jetzt mit meinen Lüneburgern Tänzern zu sehen, ermöglicht sicher noch einmal einen ganz anderen Blick darauf. Aber das ist ein einzelner Abend. Ansonsten finde ich es viel spannender, mit den Tänzern etwas Neues zu erarbeiten, etwas noch nicht Dagewesenes für sie zu kreieren.


Zur Person:
Olaf Schmidt wurde an der Ballettakademie von Hans Vogel in Berlin zum Tänzer ausgebildet und arbeitete als Schauspieler und Tänzer zuerst an der Freien Volksbühne Berlin. Über Bremen, das Stadttheater Bern, das Ulmer Theater und das Nationaltheater Mannheim führte ihn sein Weg an das Pfalztheater nach Kaiserslautern, wo er zwischen 1992 und 1997 als Choreograf und Ballettdirektor wirkte. Die gleiche Funktion bekleidete er anschließend am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Anschließend arbeitete er einige Jahre als freier Tänzer, Ballettmeister und Choreograf in Brasilien, London, Zaragoza, Bonn und Mannheim. Von 2004 bis 2013 war Olaf Schmidt Ballettdirektor am Theater Regensburg. Seine dort kreierten Stücke fanden überregional große Beachtung. Mit dem Intendantenwechsel 2012 wurde sein Vertrag nicht verlängert. Seit der Spielzeit 2013/14 ist er Ballettdirektor am Theater Lüneburg.



Hier geht es zur Kritik der „Orestie“.

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