„Dumberton Oaks“ von Antoine Jully; Timothée Cuny und Ensemble

„Dumberton Oaks“ von Antoine Jully; Timothée Cuny und Ensemble

Technik ist (fast) alles

Antoine Jully, Lar Lubovitch und Ashley Page

Hinter der spielerisch verspielten Oberfläche verstecken sich vertrackte moderne Tanztechniken und das Postulat perfekter Präzision.

Oldenburg, 16/11/2015

Im zweiten Ballettabend der vorigen Saison feierten der gebürtige Pariser Antoine Jully und seine neu formierte BallettCompagnie Oldenburg Frankreichs glamouröse Hauptstadt und den Tanz als „Die schönste aller Welten“. Die erste Premiere dieser Spielzeit musste nun unter dem Schock der Terroranschläge von Paris über die Bühne gehen. Am Beginn des Mehrteilers trat der Chefchoreograf vor den Vorhang und verlas auf Deutsch seine Bitte für „Verständnis und Mitgefühl“ und dankte den Zuschauern für ihr Kommen, das ihm und den französischen Mitgliedern der Compagnie helfe, trotz der tiefen Trauer gleich weiter zu tanzen.

Jully hat seine Choreografie „Rebound - Topple – Splash“, uraufgeführt 2013 am Ballett am Rhein, wo er und Ehefrau Carolina Francisco Sorg damals noch tanzten, unter dem Titel des begleitenden Kammerorchesterkonzerts „Dumbarton Oaks“ von Igor Strawinsky neu einstudiert. Mit zehn anstelle von neun Tänzern (zwei Frauen teilen sich einen Part), aber in genau derselben Ästhetik, die er damals entwarf, und mit dem augenzwinkernden Überraschungseffekt, der fast schon ein Markenzeichen für ihn ist.

Geometrisch akkurat wie die Bühnendekoration – drei hellgraue Würfel hinten und auf dem Rückprospekt eine sich farblich verändernde Diagonale, die an eine schräge Ballettstange erinnert – sind die neoklassischen Formationen. Aber plötzlich mischt sich eine Frau (Marié Shimada) im langen schwarzen Glockenrock zwischen die Paare. Später treten auch andere so auf und schließlich alle Männer... Und immer wieder vollführen Damen oder Herren urplötzlich witzige Hopser, Drehungen und Armschwünge. Wenn Jully sich choreografisch gern auch betont tanztechnisch gibt, so durchbricht er die Abstraktion doch immer wieder blitzlichtartig mit humoristischen Eskapaden. Dadurch macht er es den Zuschauern von „Dumbarton Oaks“ leicht, sich von seiner geschichtslosen Choreografie ‚unterhalten’ zu fühlen und nicht etwa angesichts der komplizierten, wenn auch eindrücklichen Körpersprache zwischen Neoklassik und Modern Dance zu ermüden.

Jully hält sich nah an die klangliche Aura – barock und asketisch zugleich – und die markanten Rhythmen, die nicht nur für Strawinskys Ballettmusiken charakteristisch sind. Er erfindet Bewegungsmuster, in denen keine Geste überflüssig ist oder rein dekorativ. Alt und neu werden sichtbar durch die Verwendung von Spitzenschuhen zu Beginn und Schläppchen später. Wie genau und unbefangen er die drei Sätze von Strawinskys Konzertstück analysiert hat, zeigen die Bewegungsvokabeln, mit denen Jully ursprünglich die Sätze beschrieb: „rebound“ (ein federnder Rückstoß etwa eines Gummiballs), „topple“ (stolpernd) und „splash“ (spritzen – etwa für die auseinanderstiebenden Wassertropfen nach dem Aufprall im Waschbecken).

Womöglich noch deutlicher auf den Punkt bringt Jully seinen Dialog zwischen Bewegung und Klang, Tänzer und Choreograf in dem Solo, das er für und mit Lester René González Álvarez konzipiert hat. Györgi Ligetis elektronische Komposition „Artikulation“ von 1958 bietet sich an, den Körper in Gliedmaßen und Schichten zu zerlegen. Gleichzeitig folgt der dynamische, muskulöse Kubaner mit größter Prägnanz den Tempi und Phrasen der Klangkulisse.

Ähnlich wie Jully die drei Kompositionssätze von Strawinsky mit drei lautmalerischen Verben, benennt auch Ashley Page seine neue Choreografie „Tripped Itch“, die er persönlich in Oldenburg einstudierte, mit zwei Tätigkeiten: wer ‚tripped’ ist schon gestolpert, und wen's juckt, der kratzt sich halt (im Englischen dasselbe Wort). Auch hier also signalisiert das Augenzwinkern gute Unterhaltung bei nicht zu unterschätzenden technischen Finessen und Tücken der Bewegungsabläufe. Die Choreografie ist ein Gesamtkunstwerk, das jedem Kunstfreund etwas bietet. Drei großformatige Ölgemälde in blau, gelb und rot - nachempfunden drei Werken des Amerikaners Richard Diebenkorn - schweben vor dem schwarzen Rückprospekt zu den Klängen der drei Sätze von John Adams „Son of Symphony Orchestra“ von 2007 für sehr apart besetztes Kammerorchester.

Gleich in der ersten Szene geht ein Paar (Timothée Cuny und Marié Shimada) schmunzelnd auf einander zu und reicht sich die Hände wie zu einem Spaziergang - oder freundschaftlichen Ringkampf. Letzteres umschreibt die in den nächsten 25 Minuten folgenden Szenen besser. An akrobatischen Kunststücken wird nicht gespart bis zum spöttischen Highlight, einer Art ulkiger Kontaktimprovisation, in der Eleonora Fabrizi und Marco Russo Volpe sich gegenseitig verbiegen. Am Ende dieser kuriosen Party in Weiß nehmen zwei noch einen kurzen ‚Absacker’ - der strahlende Eroberer Lester René González Álvarez und die zierliche blonde Italienerin Nicol Omezzolli, die sich in Jullys Truppe vorzüglich entwickelt.

Zwischen Jully und Page steht - einstudiert von Katarzyna Skarpetowska - ein moderner Klassiker, auf den die Vorfreude besonders groß war: Lar Lubovitchs „Marimba“. Sehr lange hat man hierzulande kaum mehr etwas von dem einstigen ‚Clown’ des zeitgenössischen Tanzes gesehen. Nun also die herrliche Gruppenchoreografie auf Steve Reichs Musik für Klöppelinstrumente, Stimmen und Orgel von 1976, als Minimal Music noch ein Geheimtipp war in der internationalen Tanzszene, aus der Taufe gehoben von Maurice Béjarts Brüsseler Ballett des XX. Jahrhunderts. So lange nach der Uraufführung kommt das damals Revolutionäre dieser erstmals wieder in Europa einstudierten Gruppenchoreografie als wohlvertraut und meisterlich daher. In vielfarbiger, einfacher Trainingskleidung einer heutigen Laientruppe tritt die (hier) zwölfköpfige Profigruppe hinten links aus den Kulissen, um sich zunächst im Zeitlupentempo, die Augen auf ein unsichtbares Ziel fixiert, nach rechts vorn zu schieben mit wogenden, wippenden Körpern und rudernden Armen. Mal löst sich der oder die eine, mal fallen einige zurück oder drehen sich zurück in die Gegenrichtung. Irgendwann bildet das Kollektiv eine lange Reihe. Alle halten sich an den Händen, formen Wellen, einen Kreis, zerfallen in Grüppchen, Paare, vereinzeln sich -bewegen sich augenscheinlich ganz welt- und zeitvergessen.

Auch in „Marimba“ verstecken sich - wie in „Dumbarton Oaks“ und „Tripped Itch“ – vertrackte moderne Tanztechniken und das Postulat perfekter Präzision hinter der spielerisch verspielten Oberfläche. Eine positive, heitere Stimmung breitet sich an diesem knapp zweistündigen Ballettabend, der so ernst begann, aus.

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