„Petruschka“ von Tarek Assam
„Petruschka“ von Tarek Assam

Strawinsky ist in!

Pick bloggt über die Schwierigkeit Klassiker der Ballettgeschichte dramaturgisch zu modernisieren und zu verändern

Nachdem das Stuttgarter Ballett 2015 schon einen Strawinsky-Abend herausbrachte, hat nun die Tanzkompanie Gießen dem Komponisten ihre Reverenz erwiesen.

Gießen / Stuttgart, 15/10/2015

Nachdem das Stuttgarter Ballett in diesem Frühjahr schon einen Strawinsky-Abend mit Choreografien von Marco Goecke, Sidi Larbi Cherkaoui und Demis Volpi herausbrachte, hat nun die kleine aber feine Tanzcompagnie Gießen ebenfalls diesem wohl wichtigsten Komponisten für das Ballett des vergangenen Jahrhunderts Reverenz erwiesen. Die Stücke, die gespielt wurden, haben fast alle hundert Jahre hinter sich und keinen Staub angesetzt; nur, dass in Gießen die gesamten Partituren erklangen und in Stuttgart die kürzeren Suiten. Alle Choreografen meinten, „Petruschka“ und „Feuervogel“ doch mehr Zeitgemäßes überstülpen zu müssen.

Die beiden Gießener Choreografen Tarek Assam und Pascal Touzeau scheinen sich gut zu verstehen, denn sie haben sich darauf geeinigt, die beiden Stücke in einem interessanten Raum von Imme Kachel, der einen Bauhaus-Touch hat, zu spielen. Aber als Klammer war ihnen das wohl nicht genug und so saß nach der Pause „Petruschka“ noch oder wieder da, wo er schon vorher gesessen hatte und verzog sich erst, als „Feuervogel“ schon in vollem Gang war, um sich dann wieder mit den anderen „Petruschka“-Protagonisten des ersten Stücks unters Volk zu mischen, was aber leider für zwei so kluge Theatermacher eher eine Notlösung und dramaturgisch zu wenig unterfüttert ist.

Das trifft auch auf die drei Stuttgarter Choreografen Goecke, Cherkaoui und den Jüngsten, Demis Volpi, zu. Nun ist es aber so, dass das Repertoire der Ballets Russes, das der hochgebildete und künstlerisch genial begabte Diaghilev angestoßen und bei der Entstehung überwacht hat, sehr ausgeklügelte theatrale Zusammenhänge hat, an die sich auch der damals junge wilde Strawinsky gehalten hat und wenn man dem nicht folgt, kann man sehr leicht ins Straucheln kommen. Trotzdem ist es das Recht, ja die Pflicht der jüngeren Generationen, nicht ausgetretene Pfade weiter zu laufen. Aber leider sind nicht alle, die sich berufen fühlen auch so genial, dass sie das Theater neu erfinden könnten und es wäre in vielen Fällen gut, wenn sie erkennen würden, wo sie ein gutes Stück nur verschlimmbessern!

Indem ich das schreibe, fällt mir ein, dass ich in grauer Vorzeit ein Peer Gynt-Ballett plante und nicht mit der existierenden Musik von Grieg zufrieden war, weil sie zu wenig Reibung für dieses komplexe Werk von Ibsen enthielt und ich den Komponisten Walter Haupt überreden wollte, eine Bearbeitung dieser Schauspielmusik zu verfassen. Als er sich mit dem Projekt beschäftigt hatte, kam er und lehnte ab; mit der Begründung, die Partitur sei zu gut! Man könne sie nur verschlimmbessern. Musiker haben einfach durch ihre Erziehung einen größeren Respekt vor den Altvorderen. Walter bot also an, die Partitur durch eigene zusätzliche Ergänzungen, da wo ich es brauchte, zu erstellen, was sowohl Grieg, Haupt und mir gerecht wurde. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich aber auch an das Gegenteil: einen Ausrutscher des Komponisten Pierre Henry, mit dem ich relativ viel zusammengearbeitet habe und der mit seiner Musique Concrète und Maurice Béjart berühmt geworden war. Er stellte eine Zehnte Symphonie von/nach Beethoven vor, die man ihm in Paris derartig um die Ohren haute, dass er sich nur schwer davon erholte. Dabei fand ich diese Collage, die keinen Ton vom bewunderten Meister der Klassik enthielt, ganz witzig. Aber mit Musik und Religion spaßt man nicht! Wenn auch das heute nur noch bedingt zutrifft …

Zurück zur Gegenwart: In Gießen wird in nicht sehr attraktiven Kostümen getanzt, die wenig zur Charakterisierung der Hauptpersonen beitragen, aber die überdurchschnittlichen Tänzer gut zur Geltung bringen. Tarek Assam konnte sich wohl nicht recht entscheiden, ob er den Magier mit seinen Puppen, den Mohren, die Ballerina und den russischen Hanswurst, dessen Titel das Ballett trägt, als solche auf die Bühne bringen will oder doch nur flippige, heutige Leute, in einer Dreiecksbeziehung ohne Seele. Und die herrliche Musik z.B. beim Tanz der Kutscher, der einem die Füße zucken lässt, ganz gleich ob in Jeans, Stiefeln oder barfuß, bewegt allenfalls das Publikum. Tarek vergibt sich leider des größten Reizes des Stücks, dass wenn es denn Puppen wären, sie wie der Tanz-Bär auf dem Jahrmarkt Gefühle entwickeln. Und Petruschka, trotz allem hinreißend getanzt von Sven Krautwurst, würde, besonders, wenn er am Ende kaputt ist, doch gern ein vielfaches Weiterleben über den Dächern triumphierend einklagen. Doch er wird mit dem Rücken zum Publikum sitzen gelassen.

Auch Touzeau versucht eine andere Geschichte auf die Bühne zu bringen. Die Titelfigur ist jetzt ein Guardian, Elle wäre die Gefangene (Prinzessin) und wie im Original Ivan der Prinz, den ich zuerst für den Feuervogel hielt, dann aber einsehen musste, dass diese Figur nur im Titel existiert. Francesco Mariottini hätte gut und gern der Feuervogel sein können, der alles beherrscht. Bei einem solchen Tänzer sieht man dann auch gern über die Schwächen der Dramaturgie hinweg, ebenso bei der entzückenden Mamiko Sakurai. Sie wird zum erbarmungswürdigen Frühlingsopfer, aber das ist ja wieder ein anderes Stück. Als sehr begabt aufgefallen sind mir die in beiden Stücken tanzenden Romain Arreghini und Alberto Terribile, der, im Gegensatz zu seinem Namen, alles andere als schrecklich ist.

Alles, was ich über diesen Strawinsky-Abend gesagt habe, könnte ich auch für die Stuttgarter Produktion anmerken, natürlich abgewandelt, mit zwei Ausnahmen. Demis Volpi mit seiner „Geschichte vom Soldaten“ geht altmodischer Weise mit Erfolg als Jüngster den Königsweg, sich möglichst eng an die Vorlage zu halten, die übrigens nicht für die Ballets Russes kreiert wurde, sondern als freie Produktion während des 1. Weltkriegs in der Schweiz, und dem Flüchtling Strawinsky das tägliche Brot ermöglichte. In Sidi Larbi Cherkaouis fast hilfloser Choreografie auf Spitze sucht man vergeblich nach dem Feuervogel und bei Marco Goeckes „Chant de Rossignol“ vergeblich auf Überraschungen, bekommt aber den herrlichen Daniel Camargo, der inzwischen alles einlöst, was man in ihm gesehen hat, als er den Tanzpreis Zukunft bekam. Und überhaupt die Weltklassetänzer und das Staatsorchester unter der Leitung des bewährten James Tuggle sind und bleiben ein Genuss. Immerhin, auch in Gießen ist man trotz einer musikalischen Konserve mit großartigen Tänzern gesegnet und die Premiere war ein voller Erfolg.

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