Entfesselnd

Trajal Harrell landet mit seiner wilden Antigone-Erzählung bei Dance einen Bühnenhit

Einer schöner als der andere. Man weiß kaum, wo man zuerst hinsehen soll: schmal und hochgewachsen die einen, markanter die anderen. Über zwei Stunden genießt man diese androgynen Halbgötter auf der Bühne der Muffathalle in München.

München, 12/05/2015

Einer schöner als der andere. Man weiß kaum, wo man zuerst hinsehen soll: schmal und hochgewachsen die einen, markanter die anderen. Adonisse, in deren Gesichtern und Hautfarben sich die Kulturen der Welt vermischt haben. Über zwei Stunden genießt man diese androgynen Halbgötter auf der Bühne der Muffathalle; danach taumelt man wie in Trance in die wärmer werdende Mainacht, in der man vergessen kann, dass man in München ist. Die Energie dieser senstationellen Aufführung mit dem Titel “Antigone Sr Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church” lässt den lange vergessenenen Puls von New York körperlich spüren. Was ist passiert? - Trajal Harrell, einer der herausragenden amerikanischen Choreografen derzeit, erweist sich mit seinem Männerernsemble „Voguing“ bislang als einer der Hits des aktuellen Dance-Festivals.

Ähnlich wie William Forsythe in „The Returns“ aus dem Jahr 2009 oder Richard Siegal bei „©oPirates“, das 2010 das Dance Festival eröffnete, spielt Harrell in seinem 2012 in New York uraufgeführtem Stück in süffisanter Ironie mit der Welt von „Fashion, Drugs and Rock´n Roll“ (wobei letzteres heute akustisch laut wummernden und übereinander gelagerten Beats gewichen ist!) und desavouiert sie als unüberschaubaren, großen Bilderhaufen, auf dem heute nahezu jeder Erdbewohner sitzt, sobald er ein Smartphone in der Hand hat. Diesen global-kulturellen Kosmos von zu Ikonen geronnenen Körperhaltungen, Gesten und Bewegungsidiomen schließt Harrell dann mit zwei Phänomenen der Theater- und Performancegeschichte kurz: mit der antiken griechischen Tragödie, konkret: „Antigone“, deren Tod der Chef am Ende höchstpersönlich in einem karthatischen Akt auf der Bühne beweint; und mit der Tradition der Judson Church, wo Yvonne Rainer und Co in den 1960ern miteinander Zeit verbrachten, neue performative Settings entwickelten und das Bewegungs- und Aufführungskonzept, sowohl der Vertreter des klassischen Balletts als auch des Modern Dance, zum Sprengen gebracht haben. Musikalisch zieht Harrell alle Register und hier erweist er sich als großer Könner. Selbst gesegnet mit einer starken brillierenden Stimme, bespielt er alle Formate, vom Gospel über das Mantra bis zum Rap und der Ballade und schafft sich mit ihnen Brücken, um die Erzählung der Antigone zu platzieren.

Die sich aus diesem vierteiligen Konzept ergebenden Konsequenzen sehen auf der Bühne beispielsweise so aus: Wie Yogis in Frauenkleidern sitzen Harrell und ein Schönling der Truppe auf einer Matratze und stimmen das Mantra des Pop an: „We are William and Kate, Simon and Garfunkel, Beyoncé, Jay-Z…“ Anschließend schlüpft einer von ihnen in die Rolle von Ismene und erzählt von der sehr komplizierten Familiengeschichte um Antigone, Haimon, Kreon, Eurydike und die abgeschlachteten Brüder herum und man denkt: „Ja, so wäre es heute, da würde einer wo rumhocken und ins Mikro seine kaputte Familiengeschichte erzählen.” Zwischendurch staken die Heroen der Schönheit in griechischen Tuniken den Laufsteg entlang. Bei alledem muss das Pubikum immer wieder mitmachen: Nah und regelmäßig arbeitet sich Harrell an ihm ab, auf dass es sich ihm ja nicht davon stiehlt. Schon zu Beginn folgt man der Aufforderung, aufzustehen und einen Song der Popkultur singend zu beten: Britney Spears‛ „Baby One More Time“. Damit ist der Diskurs über Sex, Sucht und Abhängigkeit leitmotivisch gesetzt. Gleich danach weist Harrell wie ein Conférencier auf Länge, Dauer, Inhalt und Prozesshaftigkeit seiner Performance hin, um später, im Publikum sitzend, das Defilée der Scharlatane, das seine Dorian-Gray-Prinzen aus Kleidungsstücken inszenieren, in Bezug auf seinen jeweiligen Wiedererkennungswert als Publikumslacher zu zeigen. Jil Sander wird hier schon mal gerne zu Jo Sander und Coco Chanel nehme sich gerade die Zeit, um zu verschwinden. Schließlich heizt er gemeinsam mit den Vollkommenen an seiner Seite die Menge wie ein Popstar auf, mit einem lauten „Here“ and „Ready“ seine Präsenz beweisen zu müssen – was schließlich erst nach dem vierten Anlauf gelingt. Dann trauen sich aber auch die meisten mit klatschenden Händen und hochaufgerissenen Armen in die energetisierenden Beats zu „The Roof is Burning“ hineinfallen zu lassen. Drei nur schemenhaft vor sich hinfließende Soli zu ruhigen Songs im Anschluss vermögen kaum, diese Erfahrung von Durchbruch und Abriss rasch wieder abzukühlen. Die komplexe Vielfalt an Bezügen, die sich während dieser Mammutaufführung permanent im Geist auftürmen, schweben wie Wolken über einem Geist in Trance. Wie gut, dass Kunst hier endlich mal wieder komplex, anspruchsvoll, überbordend und entfesselt sein darf.

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