Spiegeleffekte in Sankt Petersburg und Paris

DVD-Neuerscheinungen bei Arthaus

Die Eröffnungsgala des neuen Opernhauses „Mariinsky II“ war 2013 eine große Feier der spitzenbeschuhten Balletttradition, während in Paris José Montalvo und Dominique Hervieu in „Orpheus“ recht ungezwungen damit umgehen.

Die Einweihungsgala des neuen Opernhauses „Mariinsky II“, das direkt neben dem traditionsreichen, im Jahr 1860 eröffneten Mariinsky-Theater erbaut wurde, gehörte zu den großen Opern- und Ballettereignissen des Jahres 2013 – nun ist sie bei Arthaus auf DVD erschienen.

Die opulente Gala mit Auszügen aus dem internationalen Opern- und Ballettrepertoire stand im Zeichen der Selbstspiegelung: so begann sie mit einer Videoprojektion, in der die Zuschauer im Schnelldurchlauf die Konstruktion des Theaters verfolgen und einige Räumlichkeiten des fertigen Bauwerks besuchen konnten. Die neue Oper stand ebenso wie das in ihr beheimatete Opern- und Ballettensemble im Mittelpunkt des Abends; so kam beispielsweise ihre hochmoderne Bühnentechnik durch den für eine Gala ungewöhnlich häufigen Wechsel der Bühnenbilder zur Geltung. In einigen Szenen reproduzierte der Hintergrund den Zuschauerraum mit seinen Logen; diese waren wiederum gefüllt mit Tänzern oder Sängern, die das Geschehen auf der Bühne spiegelten. An anderer Stelle dienten ein großer Spiegel und eine Rekonstruktion der Decke des alten Mariinsky-Theaters als Bühnenbild. Passend zu diesen Spiegelungen begann die Vorstellung mit dem Abstieg der Schatten aus Marius Petipas „La Bayadère“. Hier hätte man sich angesichts des sonst großen technischen Aufwandes eine Rampe gewünscht – so waren die aneinandergereihten Arabesken der Schatten auf ebener Bühne zwar wunderbar synchron und harmonisch, doch auf Dauer etwas monoton, zumal überdies das anschließende Adagio durch eine Vielzahl weiterer Arabesken ersetzt wurde.

Nach Auftritten des Mariinsky-Kinderchores in „Ave Maria“ (Bach/ Gounod) und des großartigen Opernchores in einer Szene aus Mussorgskys „Boris Godunow“ folgten im getanzten Teil Ausschnitte aus John Neumeiers „Nussknacker“ mit Uliana Lopatkina, Harald Landers „Études“, Alberto Alonsos „Carmen Suite“ mit Diana Wishnewa, Roland Petits „Ma Pavlova“ mit Olga Esina und Alexander Sergejew, „Sacre du Printemps“ in der Rekonstruktion der Nijinsky-Fassung von Millicent Hudson und in der Neufassung von Sasha Waltz sowie Fokines „Sterbender Schwan“ mit Ekaterina Kondaurowa. Den Höhepunkt dieser Zusammenstellung bildete zweifelsohne die Darbietung Uliana Lopatkinas, die sich einmal mehr als die ungekrönte Königin der Kompanie erwies. John Neumeier hatte ihr den Pas de deux, eine Hommage an Anna Pawlowa und ihren Lehrer Enrico Cecchetti zu Musik aus Tschaikowskys „Dornröschen“, noch während ihrer Schulzeit in der Waganowa-Akademie zum Geschenk gemacht. Lopatkina demonstrierte darin die einzigartige Klasse, Lyrik und zurückhaltende Eleganz der allergrößten Mariinsky-Ballerinen – jeder ihrer Port de Bras ist ein Kunstwerk, dessen Äquivalent in der Ballettwelt genauso schwer zu finden ist wie Cinderellas Glasschuh.

In der Sparte Virtuosität sorgte unter anderem der leider vor zu hellem Hintergrund getanzte Ausschnitt aus „Etudes“ für Aufsehen – außer bei dem neben Maja Plisstetskaja platzierten Wladimir Putin, der nur müde klatschte. Kim Kimin ersetzte in seinem kurzen Solo die normalerweise gezeigten abwechselnden Double Tours en l’Air und Entrechats durch eine mühelose Aneinanderreihung von sieben Double Tours und machte damit dem Meister der Disziplin Konkurrenz, dem ehemaligen Mariinsky-Star Leonid Sarafanow.
Trotz vieler tänzerischer Glanzpunkte wurde die Vormacht der Oper sehr deutlich, besonders im Finale der Gala. Dieses bestand aus einem beeindruckenden Défilé von Superstars wie Anna Netrebko und Placido Domingo in kunstvoll inszenierten Ausschnitten aus Wagners „Walküre“, Verdis „Macbeth“, Mozarts „Don Giovanni“ und Tschaikowskys „Iolanta“.
Das Ballett kam daneben zwar prunkvoll kostümiert, aber wenig aussagekräftig daher mit dem Ende des Finales von Balanchines „Diamonds“, in dem Oksana Skorik und Wladimir Shklyarov nur ein sehr kurzer Moment des Bühnenruhms vergönnt war. Jedoch war es eine Freude, Oper und Ballett unter dem Taktstock von Walery Gergiew vereint zu sehen, der für die außergewöhnliche musikalische Qualität des Abends sorgte.
Eine Feier der großen Opernkompositionen und der spitzenbeschuhten Balletttradition also, in der abgesehen von Sasha Waltz’ wenig ergiebigem „Sacre“ nichts Neues zu sehen war – außer natürlich dem hochmodernen Schrein, in dem diese Juwelen des Repertoires gefasst waren.

Einen ganz anderen Umgang mit der Tradition pflegten José Montalvo und Dominique Hervieu in ihrer Fassung von „Orpheus“ für das Pariser Théâtre de Chaillot, das sie bis 2010 gemeinsam leiteten – auch diese ist bei Arthaus neu auf DVD erschienen. Die beiden Choreografen gingen höchst ungezwungen mit dem zahllose Male musikalisch und tänzerisch adaptierten Stoff um, den sie in einer kunterbunten Mischung der Genres und Medien präsentierten, die selbst schon eine Art Tradition im Théâtre de Chaillot geworden ist. Tanzende Musiker und singende Tänzer tummeln sich auf der Bühne, Hiphop und Breakdance alternieren mit barockisierenden Passagen, ein Tänzer hüpft auf Stelzen durch den Zuschauerraum, die „Orpheus“-Komponisten Monteverdi, Gluck und Glass treffen auf die Rapper der Secte Phonétik, ein Countertenor übt sich singend im afrikanischen Tanz, reale Interpreten interagieren mit Videoprojektionen ihrer selbst in Überlebensgröße. Doch nicht nur die Interpreten spiegeln sich in den Projektionen (und verwandeln sich zuweilen in wilde Tiere), sondern auch die Pariser Außenwelt, die immer wieder im Hintergrund der Videos auftaucht und Teil des Spiels mit Spiegeln, Perspektiven und Realitätsebenen wird. Das Ganze ist – wie Montalvos optisch verwandter „Don Quichotte“ aus dem Jahr 2013 – nur ansatzweise narrativ. Projektionen von Tieren erinnern an Orpheus’ Talent, die ganze Welt der Lebenden und Toten mit seiner Musik zu verzaubern, Videos gewalttätiger Frauen verweisen auf die Mänaden, die fatale Schlange windet sich um einen marmorweißen Fuß und eine Stimme erklärt einige Passagen der Handlung. Doch setzen sich Montalvo und Hervieu kaum ernsthaft mit dem Stoff auseinander – er bleibt, wie auch in „Don Quichotte“, ein „Aufhänger“, auf den sich große Teile der Musik beziehen, und ein Anlass für die Entfaltung der schöpferischen Phantasie seiner Choreografen. Diese ist allerdings bemerkenswert: wiederholt gelingen durch die ungewöhnlichen Zusammenstellungen von Stilen aus verschiedenen Ländern und Epochen erstaunliche Seh- und Hörerlebnisse, bilden sich jenseits des Hauptthemas Beziehungen zwischen den Interpreten, die wieder eine narrative Dimension schaffen. Die Vorstellung lebt vor allem von der Energie und Diversität der Interpreten, allen voran der einbeinige Brahem Aïache, der mal mit seinen Krücken, mal einen Pas de deux mit einem Breakdancer tanzt, um sich am Ende der Vorstellung wieder in der malerischen Kulisse der Straßen von Paris zu verlieren. Eine sehr dynamische Vorstellung, deren Lebendigkeit auf der Bühne sich auch auf kleinem Bildschirm noch deutlich nachvollziehen lässt.

 

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