Mauro de Candias „Brahms 1. - Reflection“ am Theater Osnabrück

Mauro de Candias „Brahms 1. - Reflection“ am Theater Osnabrück

Meisterliche Dialoge der Strukturen

Mauro de Candias „Brahms 1. - Reflection“ am Theater Osnabrück

Seine erste sinfonische Choreografie ist eine unpathetische Reflexion über Licht und Schatten des Lebens. Die Gedichtzeile „Aber da muss doch noch mehr sein“ mag für viele Lebenssituationen gelten, nicht jedoch für diesen intensiven Theaterabend.

Osnabrück, 23/02/2015

Zur majestätischen Einleitung des Allegros von Johannes Brahms‛ 1. Sinfonie schreiten und rennen die zehn Tänzer aus den Kulissen auf die Bühne, verharren wie lauschend mit dem Rücken zum Publikum. Düster ist der Raum. Schwarze Vorhänge begrenzen die Tanzfläche. Später wird immer wieder ein Tänzer in ein Strahlenbündel getaucht werden oder eine rechteckige, wandernde Lichtfläche für ein Defilée auf den Boden projiziert (Licht: Uwe Tepe mit dem Choreografen). Eine Skulptur aus Metallstangen oder Hartgummischläuchen ragt links empor, ergänzt gegen Ende des 70-minütigen Balletts von zwei schwarzen gegenüber liegenden Leinwänden. (Ausstattung: Margrit Flagner mit dem Choreografen).

Als das kraftvolle erste Streicherthema, das sich wie ein roter Faden durch die ganze Sinfonie zieht, aufklingt, setzen sich die Gestalten in Bewegung, formen in kleinen Gruppen, Duetten und Soli skulpturale Gebilde, recken sich diagonal im Profil in die Höhe, kauern sich zusammen, gefrieren zu Reliefs. In den aparten einheitlichen fleischfarbenen Trikots wirken sie weder wie Mensch noch Tier, und sind doch Lebewesen, die der Atmosphäre der Musik nachspüren in ihrer Vielfalt herrlicher Streichertutti, kurzer Holzbläsersoli, Paukenostinati und Posaunenchorälen. Aber nichts liegt Mauro de Candia ferner als diese unglaublich klangfarbenreich instrumentierte, so grandios klar strukturierte, melodiöse Komposition mit seinen eigenen „Instrumenten“ nur zu illustrieren.

Ein Dialog soll entstehen, musikalische Struktur mit Bewegungsstruktur konterkariert werden und doch so harmonieren, als wäre diese kleine wunderbare Kompanie nur eine eigene Instrumentengruppe in diesem Gesamtkunstwerk aus Musik, Tanz, Bildhauerei und Dichtung.

Das Zusammenspiel der Kunstkomponenten gelingt Mauro de Candia superb. Immer wieder begeistert das Innenhalten in einer weit ausgestreckten Pose bei dem für Brahms so typischen kurzen Verweilen auf einem Klang („un poco sostenuto“). Von hoher Ästhetik geprägt sind Raumkompositionen wie etwa ein kleiner Cluster vorn, eine schräg aufgereihte Dreiergruppe hinten und zwei Solisten seitlich. Dann wieder liegen alle flach, das Gesicht dem Boden zugewandt. Dem Staccato aus dem Orchestergraben antworten kleine Zuckungen hier und da als träfen Wassertropfen auf eine Wasserfläche. De Candias Choreografie strahlt eine souveräne Ruhe, Eleganz und Wärme aus bei gleichzeitig intensiver Spannung. Die Osnabrücker Symphoniker unter ihrem GMD Andreas Hotz spielen Saariaho glockenrein und Brahms ausdrucksstark und transparent in der Klanggebung und sehr diskret rücksichtsvoll in den Tempi.

Dem ersten Sinfoniesatz folgt ein überraschender Schnitt. Auch die Finnin Kaija Saariaho gibt dem ersten der sechs kurzen Sätze ihrer „Nymphéa Reflection“ die Aufführungsanweisung „sostenuto“. Aber wie anders als Brahms klingt ihr Streicherstück! Welches ätherische Flirren, vibrierende Glitzern, dissonante Kreischen der Geigen, wie gespenstisch mysteriös das Grummeln von Celli und Bässen! Die Finnin hatte eigentlich nur eine Bearbeitung ihres Streichquartetts „Nymphéa“ im Sinn. Daraus entstand eine Tondichtung, inspiriert von dem Gedicht „Nun ist der Sommer vorbei“ des Ukrainers Arseniy Tarkovsky. Eine ganz andere Körpersprache sprechen die Tänzer zu dieser zeitgenössischen Musik als zu Brahms‛ Romantik. Da ruckt eine Schulter, hebt sich eckig eine Hüfte, zucken Hände, Schenkel oder der Kopf in einer der tänzerisch großartigsten Sequenzen dieser technisch hochrangigen Aufführung. Schließlich aber setzt Hsiao-Ting Liao sich nieder, lässt die Beine in den Orchestergraben baumeln und hört einfach zu. Als vorzügliche Soloisten fallen auch Beatrice Panero, Vasna Felicia Aguilar, Robert Phillips und Keith Chin auf. Beeindruckend ist das unverkrampfte, sichere Zusammenspiel bei schwierigen akrobatischen Figuren. Gegen Ende des Balletts, bei dem auch die abwechselnd gespielten Musiken in einen spannenden Dialog treten, reihen sich alle Tänzer an der Rampe auf, beugen den Kopf tief auf den Brustkorb und lassen die Muskeln zwischen den Schulterblättern spielen. Zum Flageolett der Streicher und dem Flüsterchor der Orchestermusiker mit dem Gedicht gehen sie schließlich paarweise lautlos ab. Nach den letzten nachhallenden Streicherklängen brach das Premierenpublikum in minutenlangen Applaus aus.

Mauro de Candias erste sinfonische Choreografie ist eine uneitle, unpathetische Reflexion über Licht und Schatten des Lebens. Der Refrain in Tarkovskys Gedicht „Aber da muss doch noch mehr sein“ mag für viele Lebenssituationen gelten, nicht jedoch für diesen intensiven Theaterabend.

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