Grenzauslotung am el fada

Lessingtage Hamburg: Der Choreograf Abou Lagraa im Thalia-Theater

Sein Stück „El Djoudour“ ist eine bunte Melange auf vielen Ebenen - zwischen zeitgenössischem Tanz und Hip Hop, zwischen den Elementen Erde, Luft und Wasser und zwischen Wurzeln und Herkunftsorten.

Hamburg, 07/02/2015

Mit 14 Tänzern und Tänzerinnen und einer Sängerin unterschiedlichster Herkunft - einer Fusion aus seiner Kompanie La Baraka aus Lyon und dem Ballet contemporain d’Alger - bringt der Choreograf Abou Lagraa in „El Djoudour“ mit tänzerischer Höchstleistung auf die Bühne, was ihn 2010 bei einer Reise zu seinen ‚Wurzeln‛ nach Algerien inspirierte.

Abou Lagraa wurde als Kind algerischer und ägyptischer Eltern in Frankreich geboren, wo er auch begonnen hat, als Tänzer und Choreograf zu arbeiten. Er definiert sich selbst als französisch-nordafrikanischer Choreograf, der eine Melange aus kulturellen Ursprüngen in seine Arbeiten aufnimmt.

Der Choreograf lotet in „El Djoudour“ verschieden Beziehungsmöglichkeiten sowie Begegnungen im öffentlichen und privatem Raum aus und verweist damit auf den Körper in einer muslimischen Kultur. Dabei geht es ihm nicht um den Islam als Religion, sondern um eine Poetik des Körpers und das Verhalten von Körpern zueinander, geprägt von einer muslimischen Kultur. Es geht nicht darum ein Schamgefühl zu attackieren, sondern eine Frustration und Zärtlichkeit zwischen Körpern zu ertasten, die in ihrer möglichen Nähe zum Teil unüberwindbar bleibt.

Das Stück beginnt mit einer Tänzerin und einer Sängerin, Hauri Aïchi singt in einem Dialekt aus Aurès, Algerien. Sie sind beide umgeben von einem Halbkreis aus silbernen Tonnen, die symmetrisch den Rand der Bühne säumen. Nach und nach wird die Tänzerin in ihrem Solo abgelöst, begleitet, bis sich eine ganze Gruppe von Frauen auf der Bühne bewegt. Erste leichte Berührungen finden zwischen ihnen am vorderen Rand der Bühne statt, als eine Gruppe von Männern auftritt und sich im Rahmen von vier Kleiderständern gefasst hinter den Frauen positioniert. Die Kleiderstangen bilden eine interessante Ästhetik, die das Gefühl von Rahmung und das Auslosten der Grenzen unterstützt. Der „Battle“ kann beginnen, so kommt es einem vor, da diese Kleiderrahmen nun als Zwischenlinie die Bühne teilen und sich somit Frauen und Männer gegenüberstehen. Zuerst werden die Männer immer weiter zurückgedrängt, bis sie den Rahmen durchbrechen und den anderen Raum betreten.

Räumliche Grenzen werden hier aufgebaut, ausgelotet und schlussendlich überschritten. An die Grenzen der Körper wagt man sich vorsichtiger heran. Frustration über die fehlende Nähe? Wenn Berührungen und Duette zwischen den Geschlechtern tatsächlich zustande kommen, irritieren die Eindrücke oftmals. Da wirkt ein zarter Frauenkörper nicht unbedingt stark, sondern manipuliert und puppenhaft. Doch dann wiederum sehr stark, fast aggressiv, als wolle er etwas abwehren. Die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen beim Zuschauen zwischen Frustration und Aggressivität, zwischen Miteinander und Gegeneinander.

Man kommt nicht umhin, die Momente der Stereotypisierung zu hinterfragen. Es sind die Männer, die den Raum durchbrechen und eindringen. Die klare Trennung der Geschlechter und Bewegungssprachen, die räumlichen und choreografischen Verweise auf eine Breakdance und Hip Hop-Kultur, die ebenfalls sehr starre Konzepte von Rollenbildern hervorruft, reproduzieren Repräsentationen von Verhältnissen, ohne sie großartig zu brechen.

Wirklich beeindruckend war die Bewegungsqualität der Tänzer. Zwischen zeitgenössischem Flow und harten Akzenten des Hip Hop wurde mühelos hin und hergewechselt, die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Formationen und Gruppierungen waren fließend. Die Bewegungen waren teilweise so schnell, dass sie vor den eigenen Augen verschwimmen und explosionsartig den Raum füllen. Die Kontrolle über den eigenen Körper wurde hinausgeschleudert in den Bühnenraum und in der anderen Sekunde wird einem schon bewusst, dass sie nie verloren war. Sowie die Tänzerinnen und Tänzern überzeugte auch die traditionelle Sängerin, die zusammen mit der experimentelleren Musik von Olivier Innocenti das Stück musikalisch ausstattete. Ihr Auf- und Abtreten wirkte selbstverständlich, sie erhält stets einen Abstand und eine Nähe zu den Tänzerinnen und Tänzern, was einen interessanten Zwischenraum öffnet.

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