„The Red Piece“ von Ann van den Broeck

„The Red Piece“ von Ann van den Broeck 

Grenzerfahrungen

Ein Abschlussbericht zum Tanztheater International in Hannover

Langsam, aber kraftvoll treibt Ann van den Broeck in „Red Piece“ ihre zunächst mit Bondage-Seilen gefesselte Crew in die rhythmische Ekstase und an den Rand der Erschöpfung.

Hannover, 15/09/2014

Das Leben ist der härtesten eines. Und wenn man Tänzer in Ann van den Broecks Kompanie ist, wird daraus eine exemplarische Grenzbeschreitung. Langsam, aber kraftvoll treibt sie in „Red Piece“ ihre zunächst mit Bondage-Seilen gefesselte Crew in die rhythmische Ekstase und an den Rand der Erschöpfung. Wie im Bolero werden die Tänzer dabei zuletzt von dem Rhythmus regelrecht verschlungen, den die Choreografin in Stiefeln selbst auf die Bühne stampft. Immer wieder müssen die Tänzer einzelne Körperteile ins Staccato bringen, etwa nur mit einem Bein vibrieren, was besonders muskelstressend ist. Mit Schreien machen sie sich zuweilen Luft, in Zwischenphasen zum Shirtwechsel hält sirenenhafter Dauerton die Spannung. Mal scheinen sie in ihre Faust beißen zu wollen vor Wut, mal wird einer gewürgt, beweint, mit Herzmassage aufgepumpt. Auf dem Boden tanzen die beim Atmen sich aufbäumenden Oberkörper weiter. Broecks Stück ist ein mystisches Labor körperlicher (Selbst-)Ausbeutung unter dem Leistungsdruck unserer modernen Welt und zugleich eine Feier des Lebens auf der Schneide des Burnouts.

Ihr „We Solo Men“ funktioniert ähnlich, nur werden hier speziell männliche Verhaltensmuster vom Laufsteg auf die Bühne geholt. Das breitschultrige Wiegen, der entschiedene Schritt voran, die ganze coole herausfordernde Gestik. Und auch in diesem Stück werden die Tänzer in die Erschöpfung getrieben, bleiben dabei aber immer Solisten, unfähig zur Kontaktaufnahme, immer in Konkurrenz. Eine hocherotische, aber menschlich niederschmetternde Power-Ästhetik, ad absurdum geführt auch durch die Entdeckung, dass zwei der Kerle Frauen sind, die noch als sie barbusig tanzen, in ihren Bewegungen wie Männer wirken. Was auch viel über Powerfrauen sagt. Und selbst im ruhigen Abspann bleiben die Kerle einsame Monaden im melancholischen Halbdämmer, das Rollenbild hält sie fest im Griff. Nur der leere Blick, der sich nicht in die Karten gucken lässt, sieht irgendwie traurig aus.

Dagegen wirkt „Vertigo 20“, das Geburtstagsstück der Vertigo Dance Company von Noa Wertheim aus Israel, wie eine freundliche Kibbuz-Versammlung, die im Walzertakt ihr Glück als Gemeinschaft und in Paarbegegnungen sucht. Es gibt sogar den großen Gemeinschaftskreis mit Armen um die Schultern wie in der Folklore, eine wird aufgewirbelt von den anderen wie die Puppe auf dem Bild von Goya, und unter weißen Luftballons schwingen die Tänzer mit ausgebreiteten Armen. Auch muss sich der einzelne seinen Platz suchen, doch ist Wertheims Stück eine von melancholischen Melodien getönte Feier des Lebens als Gemeinschaft. Einer nur allzu bedrohten, wie wir aus dem aktuellen Israel wissen.

Noch ganz am Anfang seiner Positionierung in der Welt steht der 15-jährige Ethan Cabon. Mickael Phelippeau hat ihm ein Solo gebaut, das zu zaghaft in Gang kommt. Zu lange durchwandert er die Bühne und macht einfache Balancen. Er dürfte auch mehr erzählen. Gefühle sind kein Thema, ihn dahin zu bringen, wäre spannend geworden. Gut das Lied, das der Stimmbrüchige durch mehrere Oktaven nach unten treibt, sozusagen Erwachsenwerden im Zeitraffer. Und das Kreislaufen im Duo mit einem älteren Alter Ego. Eine noch ausbaubare Arbeit. Besonders wenn man ihn in zehn Jahren wieder auf die Bühne holen und mit einem Video dieses Solos konfrontieren könnte.

Die letzte Grenzerfahrung ist die des Todes, des Vergessens. In „My Everlasting“ verhandelt Stephen Shropshire den letztlich vergeblichen Versuch, aneinander festzuhalten in einem unheimlich intensiven, so kargen wie ausdrucksstarken Pas de deux. Eben noch hektisch alle möglichen Posen durchtanzend, sinkt sie plötzlich in seinen Armen zusammen, wird leblos, kann nur durch ihn noch bewegt werden. Der Ablauf erfährt verschiedene Wiederholungen. Mal bringt sie ihn in Position bis in den kleinsten Finger wie Erinnerungsarbeit an einem Denkmal. Dann gibt es Streit über die Erinnerungshoheit; darüber, wer wen führen darf. Er zwingt sie, nackt zu tanzen, drückt ihr Becken gewaltsam zu Boden, schleudert ihren Oberkörper vor und zurück. Doch das Leben wie die Erinnerung lassen sich nicht erzwingen. Und so endet jede Phase wieder mit ihrem Erschlaffen, seinem Weinen und seinem Kopf auf ihrem Bauch, eine Art embryonalen Urerinnerns, wo sich Geburt und Tod treffen.

Der 29. Jahrgang von Tanztheater international in Hannover war ein Reigen teils kühner, teils anstrengender, teils ergreifender Grenzerfahrungen. Leiterin Christiane Winter konnte dafür eine Platzauslastung von 99 Prozent erzielen. Kompliment.
 

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