„Tatjana“ von John Neumeier. Tanz: Sascha Trusch und Edvin Revazov

„Tatjana“ von John Neumeier. Tanz: Sascha Trusch und Edvin Revazov

Eine starke Frau

Uraufführung von John Neumeiers „Tatjana“ beim Hamburg Ballett

Neumeiers „Tatjana“ hat mit Crankos „Onegin“ allenfalls die Grundlage gemein, die tragische Liebe zwischen Eugen Onegin und Tatjana Larina. Das war’s dann aber auch schon.

Hamburg, 30/06/2014

Schon im Vorfeld haben sich viele gefragt, warum Hamburgs Ballettintendant und Chefchoreograf John Neumeier sich für sein jüngstes abendfüllendes Handlungsballett ausgerechnet ein Stück ausgesucht hat, das als Ballett schon seit fast 50 Jahren erfolgreich auf allen wichtigen Bühnen in der Welt gezeigt wird: „Onegin“, nach dem Versroman von Alexander Puschkin zu Musik von Peter Tschaikowsky. Beansprucht John Crankos legendäres Meisterwerk seit seiner Uraufführung 1965 doch eine Art Alleinvertretungsanspruch für die Ballettversion. Warum also ausgerechnet dieses Thema? Er habe „größten Respekt“ vor Crankos Werk, sagt John Neumeier, lange Zeit sei es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, eine eigene Fassung zu machen. Die erste Idee dazu keimte 1977 auf, als er die Münchner Opern-Inszenierung von Rudolf Noelte mit Julia Varady als Tatjana sah. Dreißig Jahre später wurde das Bedürfnis dann drängend, wiederum bei einer Opernfassung, diesmal von Andrea Breth bei den Salzburger Festspielen 2007. Breth habe gezeigt, so Neumeier, dass der Inhalt durchaus nicht antiquiert ist, sondern sehr gut in das 21. Jahrhundert passt. Weitere sieben Jahre hat es nun gedauert, bis diese Neukreation auf die Bühne gekommen ist, als Koproduktion des Hamburg Ballett mit dem Stanislavsky und Nemirovich-Danchenko Musik-Theaters Moskau (Premiere dort ist am 7. November 2014).

Um es vorwegzunehmen: Neumeiers „Tatjana“ hat mit Crankos „Onegin“ allenfalls die Grundlage gemein, die tragische Liebe zwischen Eugen Onegin und Tatjana Larina. Das war’s dann aber auch schon. „Tatjana“ ist gänzlich anders als „Onegin“. Beide Werke haben ihren Reiz, und beide sind auf ihre Weise genial. Neumeiers Interpretation ist vielschichtiger, bunter, grüblerischer, verschachtelter, und inhaltlich wesentlich dichter an Puschkins Werk. Neumeier zeichnet die Hauptcharaktere – Tatjana, Onegin, Lensky – sehr viel schärfer und dichter als Cranko. Er arbeitet ihre inneren Abgründe heraus, aber auch ihre Stärken, ihre Einzigartigkeit. Das spiegelt sich im Bühnenbild (für das Neumeier ebenso verantwortlich zeichnet wie für die – sehr schönen – Kostüme): Neumeier baut drei drehbare inselartige Räume, die blitzschnelle Bildwechsel ermöglichen, und ordnet jedem ein Symbol zu. Bei Tatjana ist es das Fenster, in dem sie immer sitzt und sich in ihre Traumwelt aus ihren Romanen und Gruselgeschichten hineinphantasiert (die Hauptpersonen aus dieser Lektüre treten als weißgekleidete, stilisierte Figuren mit auf). Tatjana sei, so Neumeier, „wild wie ein Reh“ und liege lieber lesend im Gras, als sich sittsam an nachmittäglichen Teestündchen zu beteiligen, „eine starke Persönlichkeit mit einer sehr gut austarierten Balance zwischen Ratio und Emotion“, ein lebensbejahender Mensch mit einer tiefgründigen Seele.

Bei Onegin ist es das Lotterbett in seiner Wohnung, Symbol seiner inneren Einsamkeit. Um Onegins Charakter zu veranschaulichen, zeigt Neumeier einen Tag aus dessen Leben. Es ist ein Alltag mit ständigem Kleiderwechsel, Theaterbesuchen, oberflächlichen Affären. Onegin, das ist bei ihm ein gelangweilter, blasierter Schnösel, den alles anödet, der auf der Suche ist nach dem Sinn, den sein Leben haben könnte, aber nichts findet, dem er sich hingeben könnte. Im Grunde ein bedauernswerter, zutiefst einsamer Mensch, der seine seelischen Abgründe hinter einer Fassade aus Hochmut und Ignoranz versteckt.

Das Kontrastprogramm dazu ist Lensky, der Verlobte von Tatjanas lebenslustiger Schwester Olga. Neumeier legt ihn als Komponisten und nicht wie Puschkin als Dichter an, sein Symbol ist das Klavier. Anders als Onegin ist er in keiner Weise auf das Äußerliche fixiert, sondern auf das, was er fühlt. Lensky hat all das, was Onegin fehlt: er lebt für seine Musik, er geht ganz darin auf, und er kann sich hingeben – vor allem Olga, die er stürmisch liebt. Ausgerechnet er, der den Sinn des Lebens in der Liebe und in der Musik gefunden hat, wird von Onegin, der all das sucht, erschossen.

Olga wiederum kann die Tiefe von Lenskys Gefühlen nicht so recht erwidern. Es schmeichelt ihr, dass jemand derart für sie schwärmt, aber sie flirtet auch gerne mit anderen. Weshalb sie Lenskys Zorn und Verletztheit nicht versteht, als Onegin mit ihr poussiert. Und nachdem dieser den eifersüchtigen Lensky im Duell erschossen hat, findet sie schnell Ersatz.

Anders als Cranko bleibt Neumeier in der Schilderung von Tatjanas Traum dicht an Puschkins Vorlage. Da erlebt sie nämlich keineswegs eine romantische Liebesszene mit dem Angebeteten, sondern einen Alptraum. Die Gestalten aus ihren Büchern entführen sie in eine unheimliche, bedrohliche Geisterwelt. Onegin ist darin ein Vampir, aus dessen magischem Bann sie ein Bär befreit, der die Züge ihres späteren Mannes trägt – eine gekonnte Allegorie auf die Zukunft.

Am Schluss ist Tatjana nicht gebrochen und verzweifelt, sondern selbstbewusst, souverän und konsequent. Die Liebe zu ihrem Mann ist echt. Sie findet in ihm den Schutz und die Sicherheit, die sie sich wünscht. Aber ebenso echt sind ihre leidenschaftlichen Gefühle für Onegin, die sie sich über all die Jahre hinweg bewahrt. Sie vermag hinter seine Fassade zu schauen. Sie erkennt ihre Seelenverwandtschaft, als sie nach dem Duell in Onegins Wohnung geht und merkt: er liest die gleichen Bücher wie sie. Sie kann aber auch sehr nüchtern sehen, dass sie nicht beide Männer haben kann. Und sie entscheidet sich für die Sicherheit. Erstmal. Ihr Blick aus dem Fenster ganz am Schluss lässt offen, ob sie nicht vielleicht doch auch die Liebe zu Onegin realisiert. Irgendwie. Irgendwann. Wer weiß.

Es ist diese Zeitlosigkeit der Charaktere und der Lebensfragen, die Neumeiers Fassung so zwingend macht, so zeitgemäß auch. Da ist nichts Verstaubtes, nichts Gestriges, nichts Romantisierendes. Was Onegin, Tatjana und Lensky widerfährt, könnte genauso gut heute passieren. Es sind Themen, die die Menschheit seit eh und je beschäftigen. Und wie immer bei Neumeier dreht sich alles um das wichtigste Gefühl, das uns alle bewegt: die Liebe. Die Liebe in all ihren Facetten und Abgründen, ihren Höhenflügen und Abstürzen, in all ihrer Kraft und Macht.

Um Puschkins komplexe Geschichte zu erzählen, findet Neumeier eine vielfältige, expressive Bewegungssprache, die unverkennbar seine Handschrift trägt – bin in die kleinste Kleinigkeiten hinein. Jede Figur auf der Bühne hat eine Bedeutung und eine Aufgabe, da ist nichts Staffage. Über fast drei Stunden hinweg entwickelt er einen Spannungsbogen, der im letzten Pas de Deux zwischen Onegin und Tatjana eine nahezu explosive Steigerung erfährt. Das ist ganz große Kunst. Eine Gabe, die extrem selten geworden ist in unserer Zeit.

Neumeier hat allerdings auch das Glück, dass er über TänzerInnen verfügt, die seine hohen Ansprüche an sowohl das tänzerische wie darstellerische Können zu erfüllen vermögen. Allen voran die furiose Hélène Bouchet, die hier zu einer Kraft findet, zu einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Ihre Tatjana hat all das, was Puschkin in ihr gesehen hat: Naivität und Hingabe, Stärke und Schwäche, Intelligenz und Klarheit, Eigensinn und Gehorsam, Souveränität und Demut. Phänomenal auch Edvin Revazov als Onegin. Ihm, der sich so gern hinter seinem wehenden Blondschopf versteckt, hat Neumeier (ein genialer Kunstgriff!) eine Glatze verpasst und damit zu einer nahezu dämonischen Ausdruckskraft verholfen. Was hat dieser Kerl für Augen! Was für markante Züge! Was kann er alles zeigen und spiegeln, wenn er nur den Mut dazu findet! Da ist zwar immer noch etwas Raum, das ist noch nicht die ganze Selbstentäußerung, aber so viel mehr, als man sonst von diesem großartigen Tänzer gewohnt ist. Und dann der Lensky von Sascha Trusch – eine Augenweide! Dieses Ungestüm, diese überbordende Lebensfreude, diese Verzweiflung, aber auch diese Sprungkraft und Präzision! Phantastisch.

Leslie Heylmann zeichnet eine kokette, selbstverliebte Olga, Niurka Moredo ist Tatjanas liebevolle, herzensgute Amme. Sasha Riva und Marc Jubete als zwillingshafte Duell-Experten Zaretsky sind hochgewachsene Schicksalssymbole, die mit dem Pistolenkoffer unheilschwanger durch das ganze Stück geistern. Die gesamte Kompanie meistert in bester Verfassung die schwierigen Ensembles.

Die Musik ist ein Auftragswerk der russischen Komponistin Lera Auerbach. Denn Neumeier war von Anfang an klar gewesen, dass er für seine Version von „Onegin“ eine andere Musik brauchte: „Tschaikowsky konnte ich nicht noch einmal strapazieren!“ Als Russin war Auerbach, die schon für die Musik für Neumeiers „Kleine Meerjungfrau“ und für „Préludes CV“ verantwortlich zeichnete, für die Umsetzung von Puschkins Worten in Klänge geradezu prädestiniert. Wie kompliziert das Ganze gewesen sein muss, zeigt die Tatsache, dass die Partitur für das Orchester erst zwei Wochen vor der Uraufführung vorlag. Dass Neumeiers Choreografie allein auf den Klavierauszug gestützt zustande kam, merkt man dem Stück in keiner Weise an – Musik und Tanz vereinigen sich zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk. Die Philharmoniker Hamburg mit Simon Hewett am Pult spielten einfühlsam und ausdrucksstark, herausragend der neue Konzertmeister Ilian Garnetz bei den mit vielen Schwierigkeiten gespickten Geigen-Soli.

Wie sehr die Aufführung das Publikum in der ausverkauften Hamburgischen Staatsoper in den Bann geschlagen hat, zeigte die Ruhe, mit der gewartet wurde, bis das letzte Licht verlöscht war, bevor der Beifall losbrach und in standing ovations für alle Beteiligten mündete.

Weitere Vorstellungen am 1. und 10. Juli sowie in der nächsten Spielzeit
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern