„Messias“ von John Neumeier. Tanz: Lucia Rios und Ensemble

„Messias“ von John Neumeier. Tanz: Lucia Rios und Ensemble

Kondensat des Wesentlichen

Wiederaufnahme von John Neumeiers „Messias“ beim Hamburg Ballett

Die langjährige Tradition, alljährlich in der Karwoche das wohl wichtigste sakrale Ballett John Neumeiers aufzuführen, die „Matthäus-Passion“, wurde dieses Jahr durchbrochen und von dem zweitwichtigsten Werk abgelöst: „Messias“ zu dem gleichnamigen Oratorium von Georg Friedrich Händel.

Hamburg, 20/04/2014

Nach der Uraufführung vor knapp 15 Jahren im November 1999 als letzte Neukreation vor dem Milleniumswechsel, möchte Neumeier diese Wiederaufnahme nicht als „aufgewärmte Tiefkühlkost“ verstehen, sondern „wie eine Premiere“, sagte er in der Ballettwerkstatt am 30. März. Zu einem Werk nach vielen Jahren zurückzukommen, sei eine ganz neue Begegnung. Man müsse die Wurzeln dieser Kreation neu finden und in sich spüren, um sie erneut kommunizieren zu können. „Messias“ sei, so Neumeier, „kein in sich geschlossenes Werk“, es gehe nicht nur um die Leiden Christi, sondern um die der ganzen Menschheit. Die sehr tänzerische Musik Händels habe ihn sofort animiert und inspiriert, aber auch den Text wollte er sehr ernst nehmen und sich tänzerisch mit ihm auseinandersetzen. Dies umso mehr, als diese Texte im Original auf Englisch gesungen werden und somit einer internationalen Kompanie wie dem Hamburg Ballett verständlich sind. Der Tanz als Bewegungskunst sei wie dafür geschaffen, die spirituelle Dimension des Werkes, die Beziehung des Menschen zu einer höheren Macht, deutlich zu machen. Im Zentrum steht dabei die Sehnsucht nach Frieden in einer Welt voller kriegerischer Auseinandersetzungen – das war Ende des 20. Jahrhunderts ebenso aktuell wie heute.

Neumeiers „Messias“ umfasst nicht das gesamte Werk Händels, er konzentriert sich auf die für ihn wesentlichen Arien, Rezitative und Chöre, und teilt den Abend in zwei große Aspekte: „Exil“ heißt der erste Teil, „Opfer“ und „Wiedergeburt“ der zweite. Auch umrahmt Neumeiner – ein genialer Kunstgriff – Händels Musik mit zwei Stücken des zeitgenössischen estnischen Komponisten Arvo Pärt (geb. 1935): dem Chor „Veni, Sancte Spiritus“ zu Beginn und dem „Agnus Dei“ für Chor und Quartett am Schluss – was dem Gesamtwerk eine zusätzliche Dimension verleiht.

Neumeier beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies, um dann überzuwechseln zu dem, was die Menschheit bis heute prägt und bewegt: die Vertreibung aus der Heimat durch Krieg und Katastrophen, Obdachlosigkeit, Flucht, wo jeder Trost im Glauben finden kann, in der Spiritualität. Er transferiert das Zeitlose ins Heutige, mit Menschen, die darauf warten, dass etwas passiert, was ihnen die Last nimmt. Alle Wechselfälle des Lebens, auch die heiteren, sind durchwebt von der Ahnung des Erlöstwerdens, der Heilung durch einen Heiland, der selbst mehr ahnt als weiß, was auf ihn zukommt. In Teil 2 dann das grandiose Solo der Opferung Christi auf der wie ein Schrei ins Unendliche zeigenden schiefen Ebene, die das ebenfalls aufs Wesentliche reduzierte Bühnenbild Ferdinand Wögerbauers beherrscht. Ebenso schlicht wie genial auch die Idee, mit einem Kreis aus großen Flusskieseln den steinigen Weg zu markieren, den die Menschheit zu gehen hat. Und aus der Dunkelheit aufscheinend dann die Wiedergeburt, das Hallelujah und das Agnus Dei mit der wohl wichtigsten Botschaft, die die Menschheit nie oft genug vermittelt bekommen kann: „Dona nobis pacem“, gib uns Frieden.

Neumeiers findet in „Messias“ zu einer zeitlos gültigen Bewegungssprache, die vor allem die Solisten grandios zu vermitteln wissen. Allen voran der erst 22-jährige Aleix Martinez, der den Part des Christus von Lloyd Riggins übernommen hat und hier zu einer atemberaubenden Intensität und Virtuosität findet – auf das Wesentliche reduziert, bescheiden, voller Demut. Das ist ganz große Tanzkunst.

Marc Jubete, ebenfalls gebürtiger Spanier und mit 25 Jahren kaum älter, ist als Johannes der Täufer die zweite Überraschung des Abends. Mit blitzsauberer Technik, vor allem aber mit seiner grandiosen Bühnenpräsenz schlägt er das Publikum mühelos in seinen Bann. Beide Tänzer vermögen es, jene magischen Momente herzustellen, bei der das Publikum mit dem Tanz und der Musik verschmilzt und jeder Huster verstummt.

Carolina Aguero als weibliche Hauptfigur vermag ihren Part noch nicht ganz zu erfüllen (und man vermisst hier schmerzlich Anna Polikarpova, die diese Rolle früher getanzt hat), auch Lucia Rios bleibt vergleichsweise blass. Bei den Ensembles stechen Emanuel Amuchastegui, Jacopo Belussi und Christopher Evans heraus, und ebenso Emilie Mazon als ätherisch-transparente Engelsgestalt.

Die Solopartien der Musik wurden wunderbar einfühlsam intoniert von Mélissa Petit (Sopran), Rebecca Jo Loeb (Alt), Rainer Trost (Tenor) und Alin Anca (Bass); Alessandro di Marchi am Pult leitete die Philharmoniker sicher durch alle Untiefen der Händel’schen Musik (ärgerlich war nur, dass die Trompete ausgerechnet bei den wenigen Solostellen ins Kieksen abrutschte). Der Chor der Staatsoper unter Leitung von Eberhard Friedrich dagegen hatte wohl etwas zu wenig geprobt, und ausgerechnet das berühmte „Hallelujah“ ging ziemlich daneben. Was dem Gesamtgenuss jedoch keinen Abbruch tun konnte: Großer Jubel in der ausverkauften Staatsoper und Standing Ovations für den Ballettintendanten.

Weitere Vorstellungen am 20., 24., 26. und 29. April sowie im Rahmen der Ballett-Tage am 5. Juli 2014
 

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