Jérôme Bels „The show must go on“. Tanz: Ensemble

Jérôme Bels „The show must go on“. Tanz: Ensemble

Keine Wohltätigkeitsveranstaltung

Jérôme Bel im Gespräch über Soziokultur und Inklusion

„Ich habe ein Problem mit dem Wort ‚Inklusion‘“, sagt Jérôme Bel gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Dies mag zunächst verwundern, schließlich wird seine Produktion „Disabled Theater“ mittlerweile weltweit als eine der avanciertesten Performances mit behinderten Darstellern gefeiert.

Berlin, 06/03/2014

„Ich habe ein Problem mit dem Wort ‚Inklusion‘“, sagt Jérôme Bel gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Dies mag zunächst verwundern, schließlich wird seine Produktion „Disabled Theater“ mittlerweile weltweit als eine der avanciertesten Performances mit behinderten Darstellern gefeiert. Der knapp 90-minütige Abend, der die erste Begegnung des Choreografen mit den Akteuren des Zürcher Theaters Hora nachinszeniert, gehört zu den intensivsten Momenten jüngerer Theatergeschichte.

Elf Darsteller mit unterschiedlichen geistigen Behinderungen werden dabei in ihrer ganzen Menschlichkeit und ihrem verqueren Humor sichtbar. Moderiert von einem Dolmetscher, der lakonisch Bels Anweisungen an die Protagonisten wiederholt - z.B. „Dann bat Jérôme die Darsteller zu tanzen.“ - füllen die Hora-Akteure die Bühne mit ihrer privaten Präsenz. Gespielt wird dabei nicht. Während Damian Bright über seine Lernbehinderung scherzt, liefert Julia Häusermann ein furioses Tanzsolo, das alle Grenzen des Choreografierbaren sprengt. Gerade dadurch, dass sich der Choreograf vollkommen zurücknimmt und seinen Akteuren die maximale Freiheit zugesteht, gelingt ihm eine Arbeit, die die Grenzen zwischen Kunst und Leben verwischt und auch deshalb rege Diskussionen ausgelöst hat.

Obwohl es sich bei „Disabled Theater“ für Bel vor allem um „experimentelles Theater“ handelt, hat das Interesse längst auch die Mainstream-Medien erfasst. Nach dem gewaltigen Erfolg werde er immer häufiger von Journalisten befragt, denen es mehr um den gesellschaftspolitischen Aspekt seiner Arbeit gehe. Und natürlich ist „Disabled Theater“ zugleich auch ein Statement: „Menschen mit Behinderungen sind die Antithese unseres europäischen Aufklärungs- und Forschungsdenkens, da sie in der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft nicht produktiv sind. Sie sind wie Sandkörner in der großen Maschine“, führt Bel aus.

Natürlich freut es ihn, dass die politische Botschaft seiner Arbeit ankommt, doch sei sie eben keineswegs „inklusiv“: „Inklusion beschreibt ja eine Bewegung von außen hinein in ein Zentrum. Und das finde ich falsch. Ich habe meine Akteure nicht in ‚normale‘ Darsteller verwandelt, wie es viele Kompanien versuchen, die in diesem Bereich arbeiten. Was mich interessiert hat, war, diese Menschen in unsere Welt der ‚normalen‘ Mehrheitsgesellschaft zu holen, um diese Welt zu erweitern - und nicht, um meine Protagonisten zu ändern. Die Frage ist: Wie kann man mit ihnen leben, mit dem, was sie sind? Und das habe ich mit diesem Stück getan.“

Zu Anfang hatte Bel jedoch eher kühl auf das Angebot von Hora-Dramaturg Marcel Bugiel reagiert, der ihn für eine Zusammenarbeit gewinnen wollte. „Schließlich wollte ich keine Therapie machen, sondern Theater“. In dem Moment jedoch, als er begriff, dass die Akteure „richtige Schauspieler“ waren, fand der französische Choreograf Zugang zu ihnen.

„Disabled Theater“ ist kein therapeutisches Nebenprojekt sondern fügt sich nahtlos in Bels künstlerische Fragestellungen ein. Nach einer Tanzausbildung Mitte der 80er hatte Jérôme Bel bis Anfang der 1990er Jahre selbst als Interpret für namhafte französische Choreografen wie Angelin Preljocaj gearbeitet und 1992 dem Superstar Philippe Découflé bei der Inszenierung der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Albertville assistiert. Seit 1994 erforscht er in minimalistischen Choreografien die Mechanismen des Spektakulären und der theatralen Repräsentation. Sein Meisterwerk „The show must go on“ (2001) ließ 20 Protagonisten dilettantisch zu Klassikern der Popgeschichte tanzen und lenkte dabei die Aufmerksamkeit auf ihre individuellen Körper und deren Zerbrechlichkeit. Voyeurismus und das Scheitern von Individuen auf der Bühne sind die beiden großen Themen, die Bel seit 15 Jahren kontinuierlich bearbeitet. Mit „Disabled Theater“ hat er nun einen Endpunkt erreicht: „In meiner ganzen Karriere sind das die Darsteller, denen ich am meisten vertraue. Was sie tun, ist niemals falsch. Weil es immer so sehr mit ihnen selbst und ihrem innersten Verlangen im Einklang steht und absolut in der Gegenwart stattfindet. Seit Jahren suchte ich nach dieser Verletzlichkeit, der Durchsichtigkeit des Performers. Und sie tun das einfach.“ Formal liegt „Disabled Theater“ irgendwo zwischen dem Ausstellen der Mechanismen des großen Spektakels in „The show must go on“ und den Solo-Porträts von Tänzern und Choreografen, für die Bel in den letzten 10 Jahren berühmt wurde.

Während die Kunst- und Theaterszene begeistert von der Arbeit ist, kommen die meisten kritischen Stimmen aus dem sozio-kulturellen Bereich: „Ich bin vor allen von Leuten angegriffen worden, die sogenanntes ‚Inklusionstheater‘ machen. Sie warfen mir vor, ich würde meine Darsteller nur ausstellen und sie nicht genügend fordern. Das erinnert mich an die Kritik an meiner Arbeit, die früher aus der Tanzszene kam. Auch „The show must go on“ fordert die Performer nicht. Ich hasse alles, was die Performer fordert. Ich versuche, die Leute zu befreien, damit sie keine Angst haben, auf der Bühne zu stehen. Ich nehme alles weg, was schwierig ist. Doch manche Leute denken immer noch, dass Arbeit schwierig sein muss, um Bewunderung zu verdienen. Ich finde eher, man sollte die Schwächen der Darsteller akzeptieren.“

Selbstkritisch merkt der Choreograf jedoch an, dass auch er zu Anfang eine paternalistische Haltung gegenüber seinen Darstellern einnahm: „Zu Anfang wollte ich ihnen meine Kultur nahebringen. Ich spielte ihnen stundenlang Aufnahmen von Varèse und Videos von Pina Bausch und Trisha Brown vor - Sachen, die ich in meiner Naivität für universell hielt. Einige von ihnen fanden das interessant, andere schliefen dabei ein. Und schließlich begriff ich, dass ich das Gleiche machte, was wahrscheinlich ihre Eltern und Familien ihr ganzes Leben mit ihnen gemacht hatten: Ich betrieb Propaganda und versuchte ihnen zu sagen, was richtig und was falsch ist. Als ich das verstanden hatte, beschloss ich, ihnen einen Abend lang die Möglichkeit zu geben, einfach das zu tun, worauf sie Lust hätten.“

Dass eine solche Offenheit auch Risiken bringt, wurde Bel klar, als sich einmal kurz vor der Vorstellung eine der Darstellerinnen weigerte, auf die Bühne zu gehen. „Zuerst musste ich schlucken, dann dachte ich 30 Sekunden lang nach. Und schließlich fand ich es absolut in Ordnung, dass sie in ihrem Hotelzimmer bleiben wollte. Auch ich selbst hätte gerne diese Freiheit, mich einfach über die Regeln des Theaters hinwegzusetzen.“

Diese Freiheit hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf Bels eigenes künstlerisches Selbstverständnis: „Ursprünglich komme ich ja von der Choreografie. Ich bin es gewohnt, meinen Performern zu sagen: ‚Diese und diese Handposition bedeutet dies und das.‘ Doch bei ‚Disabled‘ habe ich begriffen, dass es eigentlich darum geht, was diese Geste für die Akteure selbst bedeutet. Wenn er seine eigenen Entscheidungen treffen kann, funktoniert der Abend. Also löst sich meine ganze Macht über das Ganze in Wohlgefallen auf.“

Nach einer ähnlichen Freiheit sucht Bel auch in seinem neuesten Projekt: Gemeinsam mit der Schauspielerin Jeanne Balibar inszeniert er mit Laien aus den Pariser Vorstädten ein Musical über die verdrängten Aspekte der jüngeren französischen Vergangenheit. Wieder eine Arbeit, in der sich Kunstanspruch und ein sozio-kultureller Aspekt vermischen? „Normalerweise gehe ich dem Begriff Soziokultur aus dem Weg. Als subventionierter Künstler ist man in Frankreich eigentlich verpflichtet, durch Workshops gesellschaftlich unterprivilegierte Gruppen für ‚Kultur‘ zu sensibilisieren. Ich habe mich immer geweigert, so etwas zu tun, und habe daher immer weniger Geld als andere Kollegen bekommen. Als ich beschlossen habe, an ‚Disabled Theater‘ zu arbeiten, habe ich sofort alle großen Festivals der ‚Hochkultur‘ angerufen, um sie zu überreden, uns zu programmieren. Ich wollte von Anfang an klarmachen, dass es sich nicht um eine Wohltätigkeitsveranstaltung handelte, sondern um Kunst. Und jetzt stehen die Namen meiner Darsteller in den Programmheften neben Berühmtheiten wie Bob Wilson, William Defoe oder Mikhail Baryshnikov.“

(Der Text erschien ursprünglich leicht gekürzt in der Ausgabe 3/2014 der Deutschen Bühne)

 

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