Altes irritiert neu

„Sacré 101“ von Nijinskys Schlüsselwerk im Kaleidoskop der Gegenwart

Strawinskys Skandalballett „Le Sacre du Printemps“ inspirierte Tanz- wie auch Kunstschaffende. Eine Ausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich stellt das Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts ins Zentrum.

Zürich, 20/02/2014

Das Publikum damals erwartete ein klassisches russisches Ballett: Tänzerinnen in Tutus und eingängige Musik. Stattdessen sah es packenden Ritus und Tänzerinnen in folkloristischen Kleidern. Unter Tumult wurde „Le Sacre du Printemps“ von Diaghilews Ballets Russes 1913 in Paris uraufgeführt. Doch war es nicht Vaslav Nijinskys Absicht zu schockieren. Seine Idee war, zu den Wurzeln des Tanzes zurückzukehren.

Das einst umstrittene Ballett von Nijinsky ist heute ein Klassiker. 101 Jahre nach der Uraufführung versetzt es die Ausstellung „Sacré 101 – An Exhibition Based on The Rite of Spring“ in die heutige Zeit und rückt jenes Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts ins Zentrum: „Die Ausstellung ist nicht nur eine Hommage an 'Le Sacre', sondern zeigt auch kritische Auseinandersetzungen von zeitgenössischen Künstlern,“ erklärt Kurator Raphael Gygax. „Wie das Stück selbst, soll auch die Ausstellung Raum zum Querdenken bieten. Deshalb findet sie auch ein Jahr nach dem 100-jährigem Jubiläum statt.“ Seit seiner ersten Berührung mit dem Stück im Russisch-Unterricht hat Raphael Gygax „Le Sacre du Printemps“ nicht mehr losgelassen. Für die Ausstellung hat er zeitgenössische Künstler eingeladen, ihre Erlebnisse mit „Le Sacre“ weiterzugeben.

Das Ballett, in dem sich eine Jungfrau für den Frühlingsgott aufopfert und sich zu Tode tanzt, inspirierte seit seiner Uraufführung zahlreiche Tanz- und Kunstschaffende. Einige Werke thematisieren das Opferbringen auf symbolischer Ebene: Auch Tanzschaffende erbringen Opfer, indem sie täglich ihre Energie ausschöpfen und bis zur Erschöpfung arbeiten. „Le Sacre“ wird in diesem Sinne zu einem Modell, welches Einblick in den Tänzeralltag gibt. Andere Werke, die von zeitgenössische Künstlerinnen und Künstlern geschaffen wurden, setzen sich auf unterschiedliche Art mit dem Ballett, seinem Kontext und seiner Geschichte auseinander. Außerdem zeigt die Ausstellung eine Auswahl von „Le Sacre“-Tanzdokumentationen - manche davon sind erstmals einem Publikum zugänglich. Mittels Videos, Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen von „Le Sacre“-Kostümen werden verschiedene Aspekte ausgewählter Werke betont und auf die Gegenwart bezogen.

Viele Choreografen haben „Le Sacre“ in einer eignen Interpretation auf die Bühne gebracht, unter anderem Mary Wigman. Die Version der Tanzschöpferin aus dem Jahr 1957 gehört bis heute zu den bedeutendsten choreografischen Umsetzungen. Im Jahr 1913, in dem die Uraufführung von Nijinskys „Le Sacre“ stattfand, zeigte Wigman zum ersten Mal ihren "Hexentanz". Beide Choreografien bedienen sich expressiver Tanzsprache, wie Stampfen und archaischen Gesten aus der Ritualkultur. Knapp 50 Jahre später wagt sich die Grande Dame des Ausdruckstanzes an eine Neuinterpretation von "Le Sacre" - von dieser existieren Fotos, Skizzen und Aufzeichnungen, wie auch das Wissen der damaligen Tänzerinnen. Auf diesen Grundlagen ist die in der Ausstellung gezeigte Choreografie entstanden und wird für manchen Besucher zu einer kleinen Zeitreise zurück in die Geschichte des Tanzes.

An einer Rekonstruktion von Nijinskys "Le Sacre" haben sich Millicent Hodson und Kenneth Archer 1987 versucht. Ihre aufwändige Rekonstruktion für das Joffrey Ballet ist eine der sieben Choreografien, welche die Ausstellung in Bewegtbild zeigt. Die beiden Tanz- und Kunsthistoriker haben sich auf verlorengegangene Meisterwerke der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts spezialisiert. Die Originalfassung von Nijinsky, inklusive Bühnen- und Kostümbild, haben sie in akribischer Recherchearbeit über 10 Jahre hinweg rekonstruiert. Ein beeindruckendes Dokument – nicht nur für Besucher mit Faszination für die Tanzgeschichte.

Eine ausgeklügelte Choreografie führt durch den Raum. „Die Architektur ist in Diagonalen aufgebaut – nach den Diagonalen der „Sacre“-Choreografie von Nijinsky“, erklärt der Kurator. Dabei erfährt der Besucher nicht nur Hintergründe der Entstehungsgeschichte von Nijinskys Choreografie, sondern auch zu seinem zeichnerischen Schaffen, das mit „Mask“ (um 1919) in die Ausstellung mit eingebunden ist.

Die Wechselwirkung von Tanz und Kunst zeigt die Arbeit „Recollections of My Life with Diaghilev 1919–1929“ (1977/78) der amerikanischen Künstlerin Eleanor Antin. In den 70er Jahren erfand sie für sich die fiktive Rolle der russischen Ballerina Eleanora Antinova. Die Figur ist eine Ballerina dunkler Hautfarbe, die in Diaghilevs Ballet Russes tanzte. Mit ihrer Fotoserie in Sepia-Färbung wirft Antin einen erfrischend neuen Blick auf die „Le Sacre“-Geschichte. Ihr Werk setzt die Ballerina und ihre Tanzsprache in eine moderne Welt: Die exotische Tänzerin als Stilbruch mit den Ballet Russes der 1920er Jahren – präsentiert als Fiktion einer Realität.

Der Schweizer Künstler Marc Bauer beleuchtet Momente rund um Nijinskys Geschichte, die er in Skizzen und einer Wandzeichnung rekontextualisiert: Nijinskys Arbeit am „Le Sacre“, die Liebesbeziehung mit Sergei Diaghilev, die psychische Krankheit. Ein Einblick in eine persönliche Lesart von Nijinskys Biografie, die berührt.

Mit Blick auf die gezeigten tänzerischen und künstlerischen Neuinszenierungen von „Le Sacre“ wird deutlich: Die Auseinandersetzung und das Schaffen rund um dieses tänzerische Erbe hat bis in die Gegenwart Spuren in der Tanz- und Kunstgeschichte hinterlassen. Das Element der Irritation war und bleibt - auch in den Werken zeitgenössischer Künstler - Teil dieses Schlüsselwerks.
 

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