„F63.9“ von Alexey Kononov

„F63.9“ von Alexey Kononov

Die Krankheit Liebe

„F63.9“: Ein Tanzstück nach Motiven der Tragödie „Phaedra“ im projekttheater Dresden

Der Versuch, dem Mann den Schutz seiner Kleidung zu nehmen, selbst dessen Anzug anzuziehen und so in seine Haut zu schlüpfen, lässt die Grundfrage, ob Liebe Krankheit ist, nicht mehr abwegig erscheinen.

Dresden, 07/02/2014

Es ist selten geworden, dass sich Choreografen der freien Szene musikalischen Herausforderungen stellen. Der an der Waganova-Akademie in St. Petersburg und an der Moskauer Akademie für Choreografie ausgebildete Alexey Kononov gehört nicht dazu. Als Choreograf war er erfolgreich in beiden Städten, ausgezeichnet wurde er mit dem auch als „Tanzoscar“ bezeichneten renommierten Prix Benois de la Danse, bevor er 2009 nach Berlin kam und das „temporäre theater“ gründete.

Für sein Tanzstück „F63.9“ nach Motiven der antiken Tragödie „Phaedra“ wählte er das Konzert für Viola und Orchester von Alfred Schnittke, der dieses als „Durchs-Leben-Jagen“ und „traurige Lebensüberschau“ bezeichnete. Es sei ein Werk an der „Todesschwelle“. Durchzogen von herben Stimmungskontrasten, wird es von einer zerbrechlichen Grundtendenz getragen. Im Wechsel zwischen Walzermotiven und Trauermusik, filigran gearbeiteten Passagen des Soloinstruments und kammermusikalischer Klavierbegleitung, wird es zu einer Herausforderung für den Tanz. Kononov gelingt dies im Trio mit Agnieszka Jachym und Federico Politano. Sie zeigen einen höchst lebendigen Tanz todkranker, einsamer Menschen unterm Himmel aus Maschendraht im flackernden Licht einer einsamen Glühbirne.

Ein Blick in den Programmflyer ist ratsam. Denn wer weiß schon, dass „F63.9“ im Krankheitsregister der Weltgesundheitsorganisation der Schlüsselcode für „Liebe“ ist. Liebe als Krankheit, als Störung der Impulskontrolle, „zwanghafte Gedanken an einen anderen Menschen, heftige Stimmungsschwankungen, Selbstmitleid“, so die beschriebenen Symptome der „Krankheit Liebe“.

Stoff bieten Alexey Kononovs Tanzstück zudem Motive der Tragödie „Phaedra“. Hier geht es um die Krankheit Liebe, die zum Tod führt. Eine Frau liebt ihren Stiefsohn, wird abgewiesen, nimmt sich das Leben nicht ohne ihn zu verleumden, was auch für ihn den Tod bedeuten wird.

Das Stück beginnt in der Stille. Jeder der Tänzer bewegt sich auf ihren oder seinen eigenen Wegen. Die Frau nimmt die ersten Klänge der Musik auf. Es sind ferne Töne wie das Weinen des Windes. Sie lassen sie tanzen, fallen und immer wieder wie eine Verlorene und Verirrte auf den Boden klopfen. Diese Klopfzeichen ohne Echo werden zu einem wesentlichen Motiv. Unnahbar erscheint der jünglingshafte Tänzer im schwarzen, zerrissenen Anzug. Die Frau lässt kaum Möglichkeiten aus, die Distanz zu stören. Was zunächst mit kleinen, noch beherrschbaren Bewegungen der Hände beginnt, wächst zu einem massiven Begehren. Es mag paradox klingen. Bilder brutaler Zärtlichkeit ergänzen die sehr harten und schroffen Passagen der Musik. Für den Tänzer bleibt kein Ausweg auf der schwarzen Bühne. In wahnhafter Anwandlung, auf der Suche nach einer Ausflucht, reißt er sich den Boden unter den Füßen weg.

In ihrer ausweglosen Getriebenheit auf der Suche nach Nähe gerät die Frau immer tiefer in die Erfahrungen der Unnahbarkeit. Der Versuch, dem Mann den Schutz seiner Kleidung zu nehmen, selbst dessen Anzug anzuziehen und so in seine Haut zu schlüpfen, lässt die Grundfrage, ob Liebe Krankheit ist, nicht mehr abwegig erscheinen. Dass hier noch etliche weitere Motive mitschwingen, wie die der unterschiedlichen Verhaltensweisen von Männern und Frauen, wenn es darum geht, der Emotion zu folgen, versteht sich bei diesem Thema von selbst. Es ist geschaffen für den Tanz - nicht zuletzt durch präsente Darsteller wie Agnieszka Jachym und Federico Politano, die strenge Zuneigung eines genauen und maßvollen Choreografen und die Besonderheit der musikalischen Grundlage.

Die knappe Stunde im Dresdner projekttheater vergeht wie im Flug. Langsam löst sich die konzentrierte Stimmung der Zuschauer, um dann mit langem, herzlichem Applaus den Akteuren für dieses außergewöhnliche Tanzereignis zu danken.
 

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