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Lüneburg
GROSSER WURF AUF KLEINER BÜHNE
Olaf Schmidt choreografiert in Lüneburg „Kaspar Hauser“
Es ist eine der guten deutschen Kultur-Traditionen, auch in Kleinstädten ein Drei-Sparten-Theater vorzuhalten – trotz Finanzkrise und Sparmaßnahmen. Denn – so sagte es einst der jüngst verstorbene große Dirigent Claudio Abbado: „Kultur ist das Wichtigste überhaupt, sie macht reich.“ Wie recht er hat, ist in diesen Tagen in Lüneburg zu bestaunen. Das Theater, unverkennbar in einem ehemaligen Kino zuhause, leistet sich eine eigene kleine Ballett-Kompanie – vier Tänzerinnen, vier Tänzer. Nicht viel, aber immerhin. Lüneburg, eine Kleinstadt mit 72.000 Einwohnern 60 km südlich von Hamburg, stand und steht in Sachen Tanz meist im Schatten des Hamburg Ballett und der Kampnagelfabrik. Das könnte sich jetzt ändern, denn mit Olaf Schmidt, der schon in Regensburg eine kleine Bühne tänzerisch auf Vordermann brachte und seit der Spielzeit 2013/14 jetzt in Lüneburg wirkt, hat das Haus einen Glücksgriff getan. Nach „Pinocchio“, das auch für Kinder sehenswert ist, gelang ihm jetzt mit „Kaspar Hauser“ ein großer Wurf auf kleiner Bühne.
Schon inhaltlich hat das Stück das Zeug für ein großes Drama: Kaspar Hauser, der Findlingsjunge, erstmals 1828 in Nürnberg aufgetaucht, gab mit seinem seltsamen Verhalten und seiner Menschenscheu, aber auch mit seiner Sensibilität und Intelligenz viele Rätsel auf. Fünf Jahre später starb er an den Folgen eines Messerstiches – vermutlich ein Mord, denn es wurde gemunkelt, dass Kaspar Hauser in Wahrheit ein verkappter Prinz sei. Bis heute sind die vielen Geheimnisse um seine Existenz nicht geklärt.
OIaf Schmidt geht es in seinem gut 90 Minuten dauernden Stück vor allem um die Gefühlswelt des Jungen, seinen kurzen Lebensweg, die Irritationen der Begegnungen mit Ärzten, Schulmeistern, Bürgern und Adligen. Er findet dafür eine Bewegungssprache, die traditionelle Gestik mit völlig neuen Elementen vermischt – das wird nie langweilig, und es trifft immer das Wesentliche. Die Mutterfigur, nach der Kaspar Hauser sich sehnt und die für ihn unerreichbar ist, verortet Schmidt in einer Mezzosopranistin – ein genialer Kunstgriff. Kristin Darragh singt diese Partie ebenso zurückhaltend wie eindringlich, ganz besonders am Schluss in der Gänsehaut provozierenden Arie aus Henry Purcells „King Arthur“: „What Power Art Thou?“ mit dem Refrain: „Let me breathe to death“. Wie ohnehin der Musik-Mix, den Schmidt hier zusammengestellt hat, eine gekonnte Collage darstellt: von Schuberts „Unvollendeter“ über Schostakowitschs Streichquartett, Vivaldi, Mozart und Bachs Klavierkonzert B-Moll bis zu Philip Glass. Das mutet abenteuerlich an, passt aber jeweils exakt zu dem, was auf der Bühne dargestellt wird – was auch den aufmerksam spielenden Lüneburger Symphonikern unter Nezih Seckin sowie der exzellenten Pianistin Hye-Yeon Kim zu verdanken ist. Die geschickt eingerichtete, flexible Bühne von Manuela Müller und die Kostüme von Heide Schiffer El-Fouly runden das ganze zu einem Gesamtkunstwerk ab.
Der erst 21-jährige Kilian Hoffmeyer zeichnet die Seelenwelt des Findelkindes mit größtmöglicher Intensität. Nahezu die gesamte Spieldauer über ist er auf der Bühne, mit nie nachlassender Präsenz – großartig! Und aus der Not der wenigen Tänzer macht Schmidt eine Tugend, indem er ihnen einfach schnelle Kostümwechsel verpasst. So fällt es gar nicht weiter auf, dass sich hier ständig dieselben Tänzer in verschiedenen Rollen präsentieren. Und das tun sie ebenso tanz- wie spielfreudig in Bestform: Ewelina Kukuschkina, Robina Steyer, Katerina Vlasova und Giselle Monique Poncet sowie Francesc Fernandez Marsal, Naoki Kataoka und Matthew Sly.
Man darf gespannt sein, wie sich dieses kleine, aber feine Ensemble weiter entwickelt.
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