„As easy as 1, 2, 3“ von Kareth Schaffer. Tanz: Anna Lena Lehr und Kareth Schaffer

„As easy as 1, 2, 3“ von Kareth Schaffer. Tanz: Anna Lena Lehr und Kareth Schaffer

Identität und Freejazz

Die Berliner Sophiensaele eröffnen die 23. Ausgabe ihrer tanztage

Der Auftakt der tanztage ist geprägt von einer ungebändigten thematischen Vielfalt, doch lässt existentielle wie identitätsstiftende Impulse noch vermissen.

Berlin, 06/01/2014

Die tanztage in den Berliner Sophiensaelen gelten als bekanntes Festival der freien Szene zur Förderung junger Choreografen. Im Mittelpunkt der diesjährigen Ausgabe stehen internationale Künstler, die keinen klassischen Ausbildungsweg absolvierten. Der aus Los Angeles stammende Jorge Rodolfo de Hoyos beispielsweise studierte Kulturanthropologie, bevor er als Quereinsteiger zum Tanz kam. Einen ersten Eindruck vom vielseitigen Nachwuchs gab der Eröffnungsabend am vergangenen Samstag.

Am Anfang war Dunkelheit, dann Liebe, dann Tod. Der Schöpfer dieser Evolution ist der Gott der Aleatorik: Zwei weibliche Stimmen zählen mehrmals von Eins bis Drei und setzen die Reihe im gleichbleibendem Rhythmus fort. Schnappschüsse einer Liebesbeziehung blitzen in der Dunkelheit auf. Szenen der Anbetung, des Streits, der innigen Versöhnung und des Mordens werden von Kareth Schaffer und Anna Lena Lehr in Kabarett-Manier in Pose gebracht. Im Spiel der Wiederholung werden in „As easy as 1, 2, 3“ Bilder zwischenmenschlicher (Dis)-Harmonie entworfen. Am Ende entscheidet der Zählrhythmus – als Countdown und als Zufallsgenerator: Der Lebenszyklus dieser kleinen Enzyklopädie der Liebe endet bei Minute Drei − Wimpern klimpernd − im Tod.

Auch Ahmed Soura widmet sich in seinem „Au prêt du temps“ dem Verlauf der Zeit. Allerdings in Anbindung an seine eigene Biografie. Der aus Burkina Faso stammende Tänzer und Choreograf fühlt sich einer traditionellen Gesellschaft zugehörig, die zugleich die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts erfährt. Die Vermischung dieser Pole findet in Ahmed Souras Tanztechnik ihren Ausdruck. Wie ein Wanderer zwischen den Welten changiert er zwischen erzählender Gestik und wellenförmigen Breakdance-Bewegungen. Zeit erweist sich dabei vor allen Dingen als ein exzellentes Zusammenspiel mit der Livemusik. Johannes Lauer begeistert durch Freejazz-Einlagen auf der Posaune und das Blasen und Trommeln auf einer Riesenmuschel. Souras leichten und geschmeidigen Bewegungen erscheinen in Lauers mal eher traditionell afrikanisch, mal beinahe wie Techno anmutenden Beat als Sinnbilder archaischer Bewegungsrhythmik. Zeit meint letztendlich auch den Menschen und seine Eingebundenheit in einen fortwährenden Naturkreislauf, so deutet es der Tänzer zumindest an. Doch Überschwemmungen und Frühlingsklima in der Winterzeit erweisen sich längst als ein unmittelbares körperliches Feedback der Natur auf unsere selbsterfundene Souveränität. Dass der technisch perfekte Ahmed Soura am Ende seiner Aufführung immer wieder am Headspin scheitert und es trotzdem erneut versucht, soll uns sicherlich zu denken geben.

Gruppendynamische Prozesse und körperliche Response kennzeichnen Jorge Rodolfo de Hoyos lässig betitelte Performance „Departing Things“. Ausgangspunkt seines Research ist das „entwurzelt(e) Künstler_innen-Dasein“. „Aufbruch und Ankunft“ heißen bei Hoyos die Pole, innerhalb derer sich anhand einfacher alltäglicher Bewegungen ausprobiert wird. Anna Lena Lehr, Asaf Aharonson, Jorge Rodolfo de Hoyos und Thomas Proksch liegen oder sitzen auf dem Boden und essen oder spazieren mit Rucksäcken durch den Bühnenraum als wären sie auf Wanderschaft. Dazwischen liegen Pausen für ein Picknick. Mangels technischer Geräte werden mit Hilfe von Input-Output-Kabeln sowie eigener Körperwärme Kartoffeln gegart – Selbstversorgerromantik pur.

„Why do you live?“, heißt dann die Frage, als das Stück Richtung zweiter Teil geht. Lässt man den Anspruch auf Inhalt weg, so kann man hier einen verbalen Schlagabtausch zweier Personen beobachten, die über ihre Stimmen allmählich einen energetischen dritten Körper bilden. Um Zustände von Verschmelzung und Ablösung sowie um Energie geben, annehmen und umwandeln geht es auch in den darauffolgenden Szenen, in denen die Performer immer wieder Körperklang-Installationen schaffen und über Berührung Töne in sich und den anderen erzeugen. Im gruppendynamischen Prozess scheinen die Wurzeln der Entwurzelung soziale Schlingpflanzen zu werden. Wirbelten die Performer soeben noch wie von einem leichten Wind getrieben jeder für sich über die Bühne, erden sie sich am Ende der Aufführung, dicht aneinander geschmiegt, im menschlichen Miteinander.

Eines ist klar: Die thematische Vielfalt der tanztage wird auch im letzten Jahr des Kurators Peter Pleyer nicht gebändigt. Weniger klar ist, wie die existentiellen Themen zu einer eigenen Tanzsprache finden. Neue und identitätsstiftende Ansätze sind am ersten Abend nicht zu sehen. Ob das so weiter geht, wird sich in den nächsten Tagen entscheiden.
 

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