„Sun“ von Hofesh Shechter

„Sun“ von Hofesh Shechter

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum

„Sun“ - Hofesh Shechters Suche nach dem Glück

Hofesh Shechters Suche nach dem Glück geht im Festspielhaus St. Pölten in markerschütternden nuklearen Explosionen unter.

St. Pölten, 10/12/2013

Strahlende Blechbläser- und samtweiche Streicherklänge dröhnen aus den absichtlich übersteuerten Lautsprechern durch den großen Saal des ultramodernen Festspielhauses St. Pölten. Wagner-Prunk pervertiert und entblößt: der schöne Schein festlich und freudig gestimmter Gäste beim Einzug auf die Wartburg zum Sängerwettstreit trügt. Unterfüttert ist die „Tannhäuser“-Pracht mit düsteren Bedrohungen. Genau so eine Musik hatte Hofesh Shechter gesucht (und im Internet gefunden) als Highlight für seine eigene elektronische Partitur zu „Sun“. Die abendfüllende, wenn auch nur 75 Minuten dauernde Choreografie des im englischen Brighton ansässigen Israelis hatte jetzt in der charmanten niederösterreichischen Landeshauptstadt ihre Premiere im deutschsprachigen Raum. Nicht von ungefähr: Brigitte Fürle, die neue Künstlerische Leiterin des Festspielhauses, hat den Tanz-Revolutionär und seine Truppe während ihrer Intendanz der Berliner Festspiele entdeckt und gleich als „artist in residence“ nach St. Pölten eingeladen. Die österreichische Erstaufführung von „Political Mother“ war sein Entree, gefolgt von einer zehntägigen Residenz samt „Preview“ des work in progress. Nun also die Premiere des fertigen Stücks im nahezu ausverkauften Haus.

„Sun“ - der schlichte Titel verrät eine tiefe Sehnsucht nach Wärme und Frieden. „Auf eine gewisse Art handelt dieses Stück von der Suche nach dem Glück“ bestätigt Shechter laut Zitat im Programmheft. Er scheint wenig Hoffnung zu haben, fündig zu werden. Gepflastert ist der Weg mit namenloser Wut, Bitterkeit und wohl auch Verzweiflung und Trauer. Die Kontraste in dieser überaus opulenten theatralischen Show könnten nicht größer sein. Das Spektrum reicht von anrührend leiser Poesie bis zu abrupten Blackouts mit ohrenbetäubenden Detonationen. Über dem Halbrund des matt golden schimmernden Rückprospekts funkelt das Firmament aus wohl hundert Glühlämpchen. Manchmal glitzert nur der einsame Abendstern. Der glutrote Sonnenball, auf ein wehendes Leintuch projiziert (als hätte man ihn aufs Rad gebunden), wird mehrmals hereingefahren - bebend und zuckend wie ein verendender Vogel.

Zu behäbigen Dudelsackklängen kommen Pappschafe daher - und ab und an auch der böse Wolf. Heiter tänzeln und buckeln hell gekleidete Menschen, ein paar verkleidet als Clown. Der Zeremonienmeister hüpft mit erhobenem Zeigefinger diabolisch feixend vorneweg. Man formiert sich in Grüppchen zum akkuraten höfischen Tanz, in langer Reihe zur irischen Jig. Dann marschieren alle im Stechschritt als russische Paradegardisten und sehen dabei doch so putzig aus wie Struwwelpeter-Figuren. In kleinen Pantomimen diskutieren, dozieren und argumentieren einzelne oder Paare unter dem weißen Strahl eines Lichtkegels. Andere dreschen auf das gut gepolsterte Hinterteil eines Außenseiters ein. Aber schnell werden aus dem Punch-and-Judy-Theater Bilder von brutaler Realität. Mitten hinein in das theatralische Treiben dröhnen Explosionen, als sollte das Festspielhaus mit Mann und Maus - oder noch viel mehr - in die Luft gesprengt werden.

Zu Beginn des Spektakels tröstet Shechters Stimme aus dem Off: „Don't worry - everything will end well“. Die Häme ist watteweich in Freundlichkeit verpackt. Tatsächlich kommen die Zuschauer schließlich mit heiler Haut aus dem so einladend wirkenden Saal mit seinen über 1000 hochlehnigen Sitzen, die in breiten Blockstreifen wie Strandkörbe bespannt sind. Diesmal gab's Freizeit-Unterhaltung der anderen Art. Aber Shechter hat sein Ziel erreicht. Die Zuschauer hat er allemal erreicht. Die Detonationen gehen durch Mark und Bein, haben ordentlich wach gerüttelt. Beim anschließenden Publikumsgespräch fragte eine junge Frau ratlos: „Aber was können wir tun, um die Welt besser zu machen?“ Eine nukleare Katastrophe würde alle menschlichen Probleme auf einen Schlag lösen, antwortet Shechter kryptisch lächelnd. Und wieder ist die enorme Gewalt seines Welt-Tanz-Theaters geradezu mit Händen zu greifen.

Am 3. und 4. Juli 2014 ist „Sun“ in Berlin zu sehen.
 

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