„The Artificial Nature Project“ von Mette Ingvartsen
„The Artificial Nature Project“ von Mette Ingvartsen

Ein magischer Dialog

Mette Ingvartsen mit „The Artificial Nature Project“ beim Nordwind-Festival in der Hamburger Kampnagelfabrik

Die Dänin erzeugt ständig wechselnden Bilder voller Poesie und Eindrücklichkeit.

Hamburg, 08/12/2013

Wer aufgrund der Einstufung in die Kategorie „Tanz“ im Programm des Nordwind-Festivals auf Kampnagel tatsächlich tanzende Menschen erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht (und nicht wenige Zuschauer verließen während der Vorstellung die Halle). Wer sich jedoch auf die Poesie einer wunderbar durchchoreografierten Performance einlassen konnte, bei der Materialien anstatt Menschen ihre tänzerischen Qualitäten entfalten, erlebte einen grandiosen Abend.

Er beginnt leise, nahezu andächtig. Von einer unter der Decke hängenden großen Rolle sinken silbrige Flocken zu Boden, sanft illuminiert von unsichtbaren Lichtquellen. Es sieht aus, als riesele glitzernder Schnee vom Himmel, mal kleinflächig begrenzt, mal über die gesamte Bühnenbreite gespreitet. Aus den Lautsprechern erklingt dazu ein leiser, elektronisch erzeugter Ton. Schon dieser Beginn fordert Geduld von den Zuschauern – und manchen fällt das hörbar schwer, einer beginnt sogar unvermittelt zu klatschen. Dabei hat gerade dieses sachte Vor-sich-hinrieseln der Glitzerteilchen etwas magisch Meditatives und doch sehr Bewegtes: keine Flocke gleicht der anderen, ständig verändert der silbrige Schleier seine Gestalt, man kann die Augen nicht von ihm wenden und wird doch mit der Zeit eingelullt von diesem sanften Sternenregen.

Als er endet, schweigt auch der Ton. Und es werden schemenhafte Figuren auf der immer noch recht düsteren Bühnenfläche erkennbar: von Kopf bis Fuß in hellgraue oder schwarze Ganzkörpertrikots mit Kapuze gehüllte Personen, den Mundschutz bis zu den Augen hochgezogen, diese mit Schutzbrillen verdeckt. Wie Aliens muten die Gestalten an. Jetzt wird deutlich: Der gesamte Boden ist bedeckt mit silbrigem Konfetti, das teilweise zu Haufen zusammengeschoben ist. In der hinteren rechten Ecke haben sich mehrere Personen zusammengefunden und wühlen in den weichen Flocken, wie die Kinder im welken Laub, schieben sie zusammen, werfen sie in die Luft. Immer wieder. Und immer wieder auf andere Art.

Eine Gestalt in der Mitte greift die Flocken haufenweise und trägt sie zu den anderen in die rechte Ecke, um sie dort damit wie aus einer Gießkanne zu überrieseln. Das geht eine ganze Weile so hin und her, wobei sich ständig neue Bilder ergeben: unablässig werfen die Gestalten das silbrige, federleichte Material in die Luft, mal höher, mal weniger hoch, mal so hoch es nur geht; sie erzeugen glitzernde Wirbel und Fontänen, wasserfallartige Sturzbäche, die alle Konturen überfluten, von unterschiedlichen Lichtquellen sachte illuminiert.

Nach einiger Zeit schieben sich die menschlichen Fontänen diagonal aus der hinteren Ecke nach vorne, durch das fortwährende In-die-Luft-Werfen der Silberflocken ein sanftes Rauschen erzeugend, das schließlich erstirbt. Einzeln gehen die Gestalten ab, wie Gärtner kümmern sich manche noch darum, dass das Material am Boden wieder gleichmäßig verteilt wird, das jetzt nicht mehr silbrig, sondern kupfer-bronzefarbig zu glühen beginnt.

Mit Laubpustern und Ohrenschützern kommen die Gestalten zurück auf die Bühne und verteilen die Geräte an verschiedenen Stellen. Schlagartig schalten sie alle zugleich an, die (erstaunlich leisen) Elektromotoren übertönt eine Klangcollage aus den Lautsprechern. Die Luft aus den Pustern wirbelt die Silberschnipsel zu einer hohen Fontäne auf, von oben rot und später auch orange durchstrahlt, so dass ein flirrender, wirbeliger Tanz aus rotem und goldenem Glitzerkonfetti entsteht, immer wieder verändert durch die unterschiedlichen Positionen der von den Menschen geführten Laubbläser. Einzelne lösen gold-silbrige Folien aus dem Boden und entfalten mit Hilfe der „Windmaschinen“ sowie einzelnen Spiegelpappen auch mit ihnen einen wilden Tanz in ständig wechselnden Formationen, bis der Luftstrom schließlich erstirbt und alles zu Boden sinkt.

„The Artificial Nature Project“ ist ein gleichberechtigter Dialog zwischen Menschen und verschiedenen Materialien, ein Hin und Her, wobei es keinen Sieger und keinen Besiegten gibt. Vielmehr wirkt das eine auf das andere ein, und die Menschen in ihrer Vermummung sind letztlich ebenso wie das Glitzerkonfetti und die Überlebensdecken transformiert und abstrahiert. Die Performer brauchen Kraft und Ausdauer, um diesen bewegten Wirbel 70 Minuten lang immer wieder aufs Neue zu entfachen – Respekt! Am berührendsten sind jedoch die ständig wechselnden Bilder voller Poesie, die Mette Ingvartsen hier erzeugen lässt, sie entfalten eine magische Kraft und wirken in ihrer Eindrücklichkeit noch lange nach.
 

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