„Rite of Spring“ von Shen Wei Dance Arts

„Rite of Spring“ von Shen Wei Dance Arts

Fesseln und entfesseln

Shen Wei Dance Arts bei den Festspielen im Ludwigshafener Pfalzbau

Zwischen Zwang und Ausbruch agieren sie alle, jeder ein Opfer, jeder ein Kämpfer.

Ludwigshafen, 17/11/2013

Er gilt als perfekter Mittler zwischen Ost und West: der in China geborene Choreograf Shen Wei, der 2000 in New York seine eigene Company gründete, wurde in den USA und in Europa mit Preisen und Aufträgen überhäuft. Sein künstlerisches Repertoire beschränkt sich bei weitem nicht auf die Erforschung und Erfindung von Bewegungen, sondern er inszeniert, kreiert Bühnenbilder und Kostüme, Video- und Lichtdesign und machte zudem als Maler von sich reden. Außerdem gilt er als eine der seltenen Glücksfälle, bei denen professionelle Kritik und Zuschauer auf allen Kontinenten sich in ihrer Zustimmung einig sind. Dass er auch ein Nicht-Theaterpublikum in seinen Bann schlagen kann, bewies er mit der Inszenierung der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking.

Zur Deutschlandpremiere seiner bereits 2000 entstandenen 25minütigen Choreografie „Near the Terrace“ kam der Ausnahmekünstler selbst nach Ludwigshafen. Es ist ein sehr ungewöhnliches Stück, in seiner Ästhetik angelehnt an die surrealistische Bilderwelt von Paul Delvaux. Den Anfang macht ein Solo, in dem sich ein von Kopf bis Fuß in glänzenden braunen Matsch getauchter Tänzer regelrecht aus der Erde windet, ein schrecklich-schöner Menschenwurm. Dahinter entfaltet sich eine offene Fläche, gegliedert durch ein paar Farnstauden und im Hintergrund begrenzt durch eine bühnenbreite Treppe, die ins Nichts führt. In dieser Mischung aus Alptraum und Kunstraum wandeln halbnackte Figuren aus der Bilderwelt von Delvaux wie somnambule Träumer – die Damen vorzugsweise in durchlöcherten Röcken mit langer Schleppe, die Herren mit knielangen weißen Hosen – die Gesichter weiß geschminkt, die Haare gebauscht oder gepudert. So wandeln sie in zeitlupenartiger Trance über die Bühne (zu einschmeichelnden Klängen von Arvo Pärt), begegnen sich mit äußerster Sanftheit, wiegen, winden und biegen sich, probieren verwegen langsame Akrobatik- und Hebefiguren aus, verharren als kinetische Tableaus und rutschen am Ende Kopf voran die Treppen hinunter. Shen Wei schaffte es mühelos, das Publikum in Ludwigshafen auf die Kunst der Langsamkeit einzustimmen: mit perfektem Gespür für Ästhetik und Timing.

Mut braucht es immerhin, um so einen Anti-Rausschmeißer auf ein zündendes Erfolgsstück folgen zu lassen: seine 2001 entstandene Choreografie „Rite of Spring“. Die durfte im „Sacre“-Jubiläumsjahr natürlich nicht fehlen und konnte sich im Vergleich mit den zahlreichen Interpretationen, die in diesem Jahr landauf, landab gezeigt wurden, hervorragend behaupten. Shen Wei hat sich gegen die so oft erzählte Geschichte entschieden – im Gespräch wies er darauf hin, dass er der emotional hoch aufgeladenen Musik mehr Raum geben wollte. Und tatsächlich hält seine abstrakte Choregografie einen faszinierenden Dialog mit der Musik von Anfang bis Ende durch. Die Tänzer posieren anfangs wie Schachfiguren am Rande einer von asymmetrischen Linien durchzogenen Spielfläche. Sie werden zögernd - die Arme wie gefesselt an den Körper gedrückt - quasi von unsichtbaren Spielern auf ihre Positionen geschoben. Wie ein Vulkanausbruch wirkt das erste Solo, typisch für die Bewegungssprache von Shen Wei: oft am Boden beginnend, blitzschnell kreiselnde Arme und Beine, rasante Verlagerung des Bewegungszentrums. Zwischen Zwang und Ausbruch agieren sie alle, jeder ein Opfer, jeder ein Kämpfer.
 

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