„Woyzeck“ – aufwühlend getanzt

Nach „Leonce und Lena“ hat das Ballett Zürich unter Christian Spuck auch Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ in Tanz umgesetzt

Ein künstlerisches Ereignis, vom Premierenpublikum entsprechend umjubelt.

Zürich, 15/10/2013

Der 200.Geburtstag von Georg Büchner (1813-37) wird in Zürich besonders stark beachtet, weil der Dichter hier an Typhus gestorben ist und begraben liegt. An mehreren Theatern laufen Büchner-Inszenierungen. Und Christian Spuck, seit der Spielzeit 2012/13 Direktor des Balletts Zürich, hat die Chance gepackt, in diesem Gedenkjahr seine beiden früheren Büchner-Choreografien mit den neuen Tänzerinnen und Tänzern weiterführend einzustudieren: Zuerst „Leonce und Lena“ (UA Essen 2008) und jetzt „Woyzeck“, kreiert 2011 mit dem Norwegischen Nationalballett in Oslo. (Siehe Tanznetz-Besprechung von Hartmut Regitz vom 1.11.2011).

Zur Erinnerung: Büchners Woyzeck ist ein armer Soldat. Mit seiner Freundin Marie hat er ein gemeinsames Kind. Um für die kleine Familie über den Sold hinaus zu sorgen, nimmt er diverse Hilfsjobs an, frisst beispielsweise drei Wochen lang nur Erbsen für ein dubioses Medizin-Experiment. Hauptmann, Doktor, Professor – sie alle schinden und demütigen ihn. Als sich Marie mit dem eitlen Tambourmajor verlustiert, dreht Woyzeck durch und ersticht die Geliebte.

Spuck hat die Titelrolle dem jungen Belgier Jan Casier anvertraut. Der wirkt an sich ziemlich harmlos, auch ist er in Zürich noch nicht einmal Solist, sondern nur „Gruppe mit Solo“. Doch Casier fühlt und tanzt sich intensiv in seine Rolle hinein. Man glaubt ihm alles: Woyzecks Not, Scham, Verzweiflung. Das Solo zu Beginn, das die Tragödie schon vorausnimmt, wirkt in seiner Gehetztheit herzzerreissend. Ebenso das Schlussbild, wo Woyzeck neben der gemeuchelten Marie kauert. Dazu erklingt Bach, bearbeitet von György Kurtág.

Die Philharmonia Zürich unter Vello Pähn begleitet das Ballett mit weiteren Kompositionen von Kurtág und vor allem ursprünglicher Filmmusik von Alfred Schnittke. Zweimal kommt Philip Glass mit Klängen aus „Music Box“ zum Zug. Und Martin Donner hat das Ganze mit perkussiven Intermezzi ergänzt; fünf Trommler stehen dabei direkt auf der Bühne.

Das Orchester zeichnet sich durch überwältigenden Einsatz aus. Die Tanzenden auch. Herb-sinnlich Katja Wünsche als Marie, zupackend-virtuos William Moore als Tambourmajor. Ihr erster Pas de Deux präsentiert sich wie geschmiert, während die Duette zwischen Marie und Woyzeck zunehmend verquer laufen und schliesslich auseinander brechen.

Spuck hat Büchners fragmentarisches Handlungsgerüst mit präzis ausgearbeiteten eigenen Motiven ergänzt. So schickt er sechs Dorfpaare auf die Bühne, die zwar artig miteinander tanzen, aber in ihren zugeknöpften Kleidern und flachen Schnürschuhen überaus trist wirken. Die ganze Szene bleibt düster. Später, in einem Albtraum, stellt sich Woyzeck dieses Dorffest ganz anders vor: Farbiger, wilder, verdorbener. Auf der Bühne schießt jetzt grelle Energie in Tanz und Ausstattung (Emma Ryan). Die Dörflerinnen tragen sexy Ausschnitte, der Tambourmajor und Marie lieben sich öffentlich - und die Männer betatschen die zur Nutte Erniedrigte ungeniert.

An expressionistischen Ausdruckstanz à la Kurt Jooss („Der grüne Tisch“) erinnern die Szenen, in denen Woyzecks Quälgeister einzeln oder als Gruppe auftreten: Hauptmann, Doktor, Professor, dazu exerzierende Soldaten und hochnäsige Studenten mit Zylinder, alle grotesk überzeichnet. Kontrast dazu bildet die geteilte Schlussszene: Rechts tanzt der Tambourmajor beim Fest mit einer Neuen. Links fällt Nieselregen auf die tot ausgestreckte Marie. Neben ihr der fassungslose Woyzeck. Bei Büchner geht dieser später ins Wasser, bei Spuck endet hier die Geschichte.

Mit den Balletten „Woyzeck“, „Leonce und Lena“ sowie letztes Jahr mit „Romeo und Julia“ hat sich Christian Spuck, der Nachfolger von Heinz Spoerli in Zürich, prägnant als Choreograf von Handlungsballetten etabliert. Und damit dem Publikum jene Gattung erhalten, die es besonders schätzt. Spucks abendfüllende Werke sind heute so beliebt wie vorher jene von Spoerli.

Premiere 12. Oktober 2013,
Weitere Aufführungen mit wechselnder Besetzung: www.opernhaus.ch

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