„Schlafes Bruder“ von Ralf Rossa. Tanz: Ensemble

„Schlafes Bruder“ von Ralf Rossa. Tanz: Ensemble

Wachen bis in den Tod

Ralf Rossas „Schlafes Bruder“ wandert von Halle nach Schwerin

Ein Glücksfall für den Schweriner Ballettdirektor Sergej Gordienko - Rossas geniale Choreografie fußt auf Goran Bregović Kompositionen und einem Mix aus Pop- und Folkloreelementen

Schwerin, 26/09/2013

Sanfte Streicher als Ouvertüre, Röte flackert, Gewitter dröhnt, Blitze zucken. Entfesselte Naturgewalten begleiten den endlosen kollektiven Geburtsvorgang. Zur Welt kommt dabei Elias, den die Mütter auspressen müssen, weil es ihn nicht nach draußen zieht. Als er strampelt und die Nähe der Eltern (Julio Miranda als Josef Alder sowie Katharina Maria Schmidt als Mutter Agathe) sucht, lehnen die ihn rabiat ab. Kein guter Start in ein „normales“ Leben. Normal im Sinn des Durchschnitts ist dieser Knabe auch nicht. Denn Elias (Tuomas Hyvönen) tanzt besser als alle anderen Dorfjungen. Und das macht ihn zum Außenseiter. In die Sphäre des Tanzes hat Choreograf Ralf Rossa transponiert, was der 1992 erschienene, zu internationalem Ruhm gelangte Roman von Robert Schneider in der Musik beim Phänomen des absoluten Gehörs ansiedelt.

Was Rossa 2004 seinem Hallenser Ensemble perfekt maßschneiderte, übertrug er nun der Schweriner Kompanie. Auch dort tragen Bühne und Licht von Matthias Hönig sowie Götz Lanzelot Fischers zottelige, grobstoffliche Kostüme zum nachwirkenden Gesamteindruck des Abends bei. „Schlafes Bruder“ als vom Roman übernommener Titel auch für das Ballett zitiert einen Choral von Bach und meint den Tod. Um ihn als den Gegenpol eines nicht lebbaren Lebens geht es.

Mit den Tieren des Waldes, wie sie zwischen hängenden Stämmen umherhuschen, pflegt Elias Gesellschaft, hier kann er, an eine Plastik Ernst Barlachs gemahnend, sich freisingen. Im Traum öffnet ihm ein Engel die Augen, regt ihn an, das Ungewöhnliche zu versuchen: Fliegenwollen. Doch der dörfliche Kosmos ist eng wie Hönigs hölzernes, von diffusem Licht erhelltes Geviert, das keinen Platz für Sonderwünsche hat. Lediglich Peter (Maxim Perju), im selben Kniebeuge-Lauf auftretend wie Elias, wird ihm Freund und rasch verzweiflungsvoll aussichtslos Liebender. Peter nimmt ihn an die Hand, trocknet dem Weinenden die Tränen, umwirbt, küsst ihn todesmutig. Elias‘ Schicksal heißt Elsbeth, Peters ebenfalls unter schmerzhaften Wehen geborene Schwester, die hier von Eliza Kalcheva verkörpert wird. Der Quartett-Tanz von Mutter, Tochter, Elias und Peter gerät zum ersten choreografischen Feingespinst des zweistündigen Abends. Peters Hingabe an den Freund macht ihn zum Gespött der Dörfler, die im wilden Tanz der fliegenden Röcke den Sonderling umtoben, ihn misshandeln und sich dann vor einer Maria im Strahlenkranz kasteien. Gut tanzt Elias vornan. Peter setzt aus Protest die Kirche in Flammen, Elsbeth wird vom verliebten Elias gerettet, der den Brandstifter nicht verrät.

Wildfang Elsbeth genießt Elias‘ Gefühle, ihr fröhliches Duett doubelt hinten Peter – in Elsbeths Part. Wenn es doch noch zum Duo der beiden Männer kommt, dann nur, weil Elias vor Glück traumwandelt. Eifersüchtig verkuppelt Peter das fügsame Mädchen mit einem Anderen, und Elias findet die Courage nicht, sich ihr zu eröffnen. Wie fremdgesteuerte Marionetten von Peters Hand taumeln da Elsbeth, ihr Freier und Elias mit seinem klopfenden Herzen. Die Hochzeit wird zur rauschend-berauschenden Orgie, bei der in einem kunstreich verflochtenen Doppelduett zu leisem Gitarrenklang letztmals die unerfüllbar widerstrebenden Gefühle aufeinanderprallen. Elias beschließt, sich aus Liebe in den Tod zu wachen, Peters finaler Freundesdienst kann nur noch sein, ihn hierbei nicht im Stich zu lassen. An einen pendelnden Baum gebunden, haucht Elias in der Bläue eines Munk-Tableaus sein verschenktes Leben aus. Elsbeth trägt ein Kind in sich, fängt ein Herz auf. Der Kreislauf kann neu beginnen.

Ralf Rossas genialer Einfall ist die Musik. Nicht Bach vertraut er die Poesie einer gleichnishaften Geschichte an, sondern dem renommierten Goran Bregović, der Balkanfeuer, Pop und Folklore zu einer unwiderstehlich mitreißenden, dabei in sich ungemein differenzierten Klangmixtur vereint. Zusammen mit Elementen des Volkstanzes in den Fassungen und fulminant hüpfenden Formen, die Rossa mustergültig tongenau einsetzt, entsteht ein Gewirk aus dramatischen Spielszenen und skurril-grotesken Bildern, das die Atmosphäre in jenem österreichischen Bergdorf überzeugend einfängt.

Den subtilen Solopassagen hat Rossa die himmlische „Musica Celestis“ des Amerikaners Aaron Jay Kernis unterlegt. Bringt sich die gesamte Gruppe mit Furor ein, sind es doch drei Solisten, die dem Abend Glanz verleihen: Tuomas Hyvönen als gezeichneter Elias, Eliza Kalchevas Elsbeth als Ausbund an Tanztemperament und, allen voran, der Peter des Maxim Perju, ein Geschundener mit angstgeweiteten Augen und wirrem Haar. Der Mut von Ballettdirektor Sergej Gordienko, eine höchst gelungene Fremdinszenierung in sein Repertoire zu holen, sollte Nachahmer finden.
 

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