„Bewegungschor“, angeleitet und einstudiert von Nina Kurzeja

„Bewegungschor“, angeleitet und einstudiert von Nina Kurzeja

Viel Stoff

Drei Tage verwandelt sich Stuttgarts Zentrum in ein „Tanzlokal“

Das Tanz-Erbe des 20. Jahrhunderts in Deutschland wiederzubeleben und zu erforschen, hat sich der Tanzfonds der Kulturstiftung des Bundes auf die Fahnen geschrieben. Er fördert ausgewählte Projekte, die sich mit herausragenden Protagonisten, Themen und Werken der Tanzgeschichte befassen.

Stuttgart, 11/09/2013

Raus aus Proberäumen, Studios und Ateliers rein ins Gemenge! Der Wunsch wahrgenommen zu werden quält die zeitgenössische Tanzszene der schwäbischen Landeshauptstadt seit langem. Konservative Politiker hatten jahrzehntelang keinen Bedarf, denn für Repräsentation in Sachen Tanz ist in Stuttgart das Ballett zuständig, das seit Cranko (1961) als feste Größe von internationalem Rang weltweit Furore macht. So wurden die freien Tänzerinnen und Tänzer eher als Flöhe betrachtet, deren ständiger Juckreiz lästig, unangenehm und verzichtbar ist. Auch wird ihr kultureller Markt- und Mehrwert so gering eingeschätzt, dass die Freischaffenden seit Jahren vernachlässigt werden.

Damit ist jetzt Schluss. Veranstaltet vom Stuttgarter Produktionszentrum Tanz und Performance in Kooperation mit der TanzSzene BW und gefördert vom Tanzfonds des Bundes, dem Landesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie der Paul-Lechler-Stiftung heißt die Devise klotzen statt kleckern: „Tanzbrunch“, „Tanztalk“, „Tanzkino“, „Tanzvortrag“, schließlich „Tanz für alle“ („Bal moderne“) sind nur einige Programmpunkte des dreitägigen Tanzfestes Stuttgart, dem das Credo von Rudolf von Laban (1879-1958) zugrunde liegt: „Jeder Mensch ist ein Tänzer“. Mit einem „Ausdruckstanz-Karaoke“, dem weltersten, klingt der erste Abend aus. Kein Anspruch auf Perfektion besteht, so kann hier jeder ohne Schwellenangst ausprobieren, wie sich die Moves einer Mary Wigman (1886-1973) anfühlen – schön verfremdet zum Sound von Swing und Dixieland.

Anmutig schauen die versteinerten Barock-Skulpturen vom Dach des alten Schlosses auf das Treiben da unten. Hier auf dem Schlossplatz, rennt, läuft, geht und schlurft eine gemischte Tänzergruppe über den Kies. Ein Bewegungsritual à la Labans „Bewegungschor“. Angeleitet von Nina Kurzeja bilden Profis und Laien unterschiedliche Formationen, mal driften sie auseinander, dann sammeln sie sich, um gemeinsam eine lebende Skulptur zu bauen. Oder sie folgen in langsamen Abläufen einer Vortänzerin auf Sicht, die hin und wieder technisch anspruchsvolleres Bewegungsvokabular abruft. Ahnungslose Passanten schauen verwundert, sind verdutzt und zugleich gebannt von der Magie einfacher, meist alltäglicher Bewegungen.

Beinahe wäre dieser bewegte Auftakt ins Wasser gefallen. Während der Danksagungsergüsse bei der Eröffnung im Württembergischen Kunstverein, fegt ein kurzer Wolkenbruch durch die Hauptstadt des Feinstaubs – genau fünf Minuten vor fünf hört es auf zu regnen. Pünktlich um 17 Uhr zieht der Bewegungschor seine Bahnen auf dem frisch gereinigten Platz. Und auch Diana Wessers performativer Spaziergang „Die Erkundung“ (Teil einer Trilogie im urbanen Raum) und Eva Baumanns Kunstfigur, ein an Oskar Schlemmer (1888-1943) angelehnter „Humanoid“, sowie andere Aktionen im Freien, kommen ohne Schirm aus.

Das Tanz-Erbe des 20. Jahrhunderts in Deutschland wiederzubeleben und zu erforschen, hat sich der Tanzfonds der Kulturstiftung des Bundes auf die Fahnen geschrieben. Er fördert ausgewählte Projekte, die sich mit herausragenden Protagonisten, Themen und Werken der Tanzgeschichte befassen. In Baden-Württemberg gehören dazu der Stuttgarter Künstler Oskar Schlemmer und sein „Triadisches Ballett“. Weniger bekannt ist, dass Kurt Jooss (1901-1979) aus Aalen stammt; der Sohn eines Brauereibesitzers fand 1919 durch die Begegnung mit Laban zum Tanz. Auf ihn, den frühen Laban-Schüler und Mitbegründer der Folkwang Tanzhochschule Essen geht sowohl der Begriff „Tanztheater“ als auch die Arbeit seiner Schülerin Pina Bausch zurück.

Zum Unterhaltsamsten des „Tanzlokals“ zählt das Mitmachstück der Gruppe LIGNA. Ausgangspunkt der vier Übungen zum Thema „Der neue Mensch“ sind Labans Bewegungsstudien. Wie der weltläufige Ungar entwerfen auch seine theaterschaffenden Zeitgenossen Bert Brecht (1898-1956) und Wsewolod Meyerhold (1874-1940) Körper- und Staatstheorien; was dem Deutschen der Verfremdungseffekt ist dem Russen die Biomechanik. Schließlich stolpert als vierter Charly Chaplin (1889-1977) über alle utopischen Hoffnungen.

Die Hamburger Medien- und Performancekünstler Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen begreifen das Publikum als ein Kollektiv von Ko-Produzenten, die über Kopfhörer choreografische Anweisungen empfangen und zum Teil einer Inszenierung werden: nicht faul darf eine Gruppe den Watschelgang des Komikers probieren, eine zweite versucht sich als Tieftänzer à la Laban, eine dritte macht Sprünge den Gesetzen der Biomechanik folgend und die vierte ruft laut: „Die Bühne sei Fernrohr und Lupe!“.

Alle 60 Teilnehmer teilen sich gleichzeitig denselben Raum, sind ununterbrochen in Aktion, wobei immer 15 identische Anweisungen erhalten, die im Rotationsprinzip durchlaufen werden. Nach siebzig ebenso bewegten wie lehrreichen Minuten triefnass gibt’s als Belohnung einen Drink und die Erkenntnis: „Selten so geschwitzt!“

Neben den partizipativen Formaten, in denen jeder den Kern des Tänzers in sich entdecken kann (oder auch nicht), gibt es Uraufführungen, in denen die Künstler weniger rekonstruierend als transformierend auf Spurensuche gehen. Mit Zirkusartistik, einem Tanzstudium an der Folkwang Hochschule und viel Performance-Erfahrung im Gepäck hat sich Felix Bürkle 12 Tage im Haus der Geschichte einquartiert. Gemeinsam mit Pipo Tafel ist „Hexagon“ entstanden, eine für den sechseckigen Raum maßgeschneiderte Performance, in der Klang, Licht und Körper sich synästhetisch verdichten. Von den unausgesprochenen Ansprüchen des Raums überfordert, zieht sich der Performer in eine Wabe aus Neonstäben zurück, in diesem Schutzraum, ganz bei sich, legt er seine Kleider ab. Schließlich verlässt er dem Raum bis auf den Slip nackt.

Ganz nackt beginnt Isabelle Schad ihr Solo „(OP)POSITIONEN zu O.S.“. Im großen Ausstellungsraum des Württembergischen Kunstvereins liegt die Choreografin bäuchlings auf langen Stoffbahnen ausgestreckt. Sie sind nicht farbig wie die Schlemmer-Kostüme, sondern schwarz, braun und grau. Durch Schieben, Rutschen und Rollen verwickelt sie sich immer mehr mit dem Material auf dem Boden. Ein amorphes Gebilde, ein undefinierbares Objekt. Langsam befreit sich das Subjekt aus den Fängen des Materials. Indem der Stoff geschlagen, geschüttelt und geschwenkt wird, verwandelt er sich für kurze Momente in fantastische Skulpturen. Eine faszinierende Metapher für die Bewältigung von viel Stoff – und den bietet das Tanz-Erbe in rauen Mengen. Also raus und angepackt!
 

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