„Trachtenbummler“ von Jochen Roller

„Trachtenbummler“ von Jochen Roller

Das Vergessene erinnern

Jochen Rollers „Trachtenbummler“ beim Festival Tanz im August

„Deutsche Volkstänze als postkoloniales Tanzspektakel: In „Trachtenbummler“ erscheint hiesige Folklore genauso „authentisch“, „fremd“ und „exotisch“ wie vermeintliche Stammestänze aus Samoa“, verspricht die Ankündigung. Die Neugier ist geweckt.

Berlin, 30/08/2013

Die Uraufführung der „Trachtenbummler“ am 27. 8. 2013 im ausverkauften Ambiente der Sophiensaele gehört für mich zu den Sternstunden des diesjährigen Festivals. Es ist selten, dass ein Tanzstück so überrascht, sein Thema facettenreich beleuchtet ohne abzuflachen und als Ensemblearbeit erkennbar bleibt.

Jochen Roller gelingt mit der Uraufführung von „Trachtenbummler“ auf sinnliche Weise das Vergessene zu erinnern und das folkloristische Tanzerbe in ein neues Licht zu rücken.

Aus ihren Akkordeons lassen drei Performer zu Beginn nur den Wind rauschen. Später greifen die ihre Identität beständig durch das Kostüm ändernden Tänzer zu anderen Utensilien aus einem zweitürigen Holzschrank mit bunten Blumen. Das schafft zwischen den Tänzen eine natürliche Atmosphäre, die postkartenreife Assoziationen zu Land und Leuten in Gang setzt. Drei Frauen mit ihrem koketten Wasserpfeifen-Vogelgezwitscher oder der humorvolle Kuhglocken-Disput der Männer konzentrieren die Sinne der Zuschauer.

Das Trachten-Design von Daniel Kroh offeriert unglaublich bemerkenswerte Details, die lustvoll den speziellen Blick auf Tracht & Folklore lenken. Was gibt es nicht alles zu entdecken: Pseudo-Lederhosen und üppige Puffärmelkleider, übergroße Jagd-Applikationen, bunter Kopfputz aus Gürteln, rote Lausitzer Spreewaldhauben und lustig-gruselige Fastnachtsumhänge aus Unterhemden, Kronkorkenkränze, die im Licht wie Gold funkeln.

Der Choreograf und Tänzer Jochen Roller ist hier gleichsam ein choreografischer Bergmann, der mit seinen fabelhaften Mitstreitern kreativ den Abraum abträgt um zur Essenz vorzudringen: „Trachtenbummler“ lässt (Dank sinnvoller dramaturgischer Entscheidungen) die Schönheit des überlagerten, vergessenen und verfälschten Schrittmaterials süddeutscher Tänze genussvoll und voller Überraschungen aufleuchten. Choreografisch genau und formenreich zelebrieren Jochen Roller und Joavien Ng, Edouard Pelleray, Ahilan Bhuvanendra Ratnamohan, Magali Sander Fett sowie Latai Funaki Taumoepeau die acht Tänze aus Oberbayern, der Lausitz, dem Schwarzwald, tanzen Polka und Reigen und formieren sich kunstvoll mit je zwei kleinen schwarz-rot-goldenen Fahnen beim „Schwälmer Fahnenschwingen“ – doch traditionelle Folkloremusik illustriert hier niemals. Der erhellende Kunstgriff besteht in der Wahl von Popmusiken, die den Tänzen unterlegt sind. Durch diese musikdramaturgische Entscheidung wird, stimuliert von Besetzung, Kostüm und Bühnenraum, das altbacken Bekannte bzw. heute den Meisten Unbekannte als Substanz unseres Tanzerbes sichtbar. Beim „Oberbayrischen Schuhplattler“ zeigt das Sextett viel Beinarbeit und nur einmal gellt ein fremd anmutender Schrei aus eingefrorenen Gesichtern; in den vielgestaltigen Formen beim „ „Niederdeutschen Mühlrad“ finden sich alle mit natürlichem Lächeln in gemeinsamen Tanzfreuden. Wenn drei Paare im abschließenden „Vorarlberger Ländler“ einander umtanzen, umdrehen, durch die Fenster dem Liebsten nahekommen und das Licht verlischt, endet ein anregender Tanzabend. Das Publikum feiert Akteure und Inszenierungsteam zu Recht.

noch bis 30. August 2013, Sophiensaele
 

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