„Le Cri“ von Nacera Belaza

„Le Cri“ von Nacera Belaza

Drehen wie ein Derwisch

„Le Cri“ der Algerierin Nacera Belaza

Tanzwerkstatt Europa - eine vorzeitige Bilanz.

München, 08/08/2013

Jedes Festival, und das ist gut so, hat seinen eigenen Charakter. Die Münchner Tanzwerkstatt Europa (TWE) von Joint-Adventures-Chef Walter Heun fährt zweigleisig: tagsüber Workshops für Profis und Laien, abends Vorstellungen der Choreographen-Gäste – wobei einige auch als Worshops-Dozenten aktiv sind. So entsteht jeden Sommer für zehn Tage eine interessierte, sich austauschende Tanzgemeinde. Und was könnte für den Tanz förderlicher sein?

Mit der städtischen Dance-Biennale kann Heuns private Veranstaltungsinitiative natürlich nicht konkurrieren. Was auch nicht ihr Ziel ist. Aber trotz nochmals gekürzter Subvention der Stadt (von einst 165 000 Euro ging es allmählich runter auf jetzt 100 000 Euro), konnte Heun diesmal wieder neue Tendenzen vorstellen.

Der Auftakt mit „Here comes the Crook“ (wir berichteten), zugegeben keine Glücksstunde, war immerhin der Versuch zu einem schräg verfremdeten Musical. Und das Versuchen, Riskieren, Erneuern macht ja den zeitgenössischen Tanz aus. Da ist nicht alles perfekt, aber immer wieder gelingt auch etwas. Wie bei dem Niederländer Jefta van Dinther, der schon bei einer früheren TWE mit einer luftigen Trampolin-Choreographie überraschte. „Grind“ nennt er sein grenzgängerisches Solo: „Schinderei“. Und er robbt über den Boden, schlägt autistisch wiederholt mit dem Rücken gegen eine Wand, zerrt und schleppt ein Endloskabel heran. Alle Bewegung in einem wie elektrisch geladenen repetitiven Rhythmus. David Kiers' in Klang und Rhythmus die Nervenenden reibender Soundtrack peitscht ihn an. Das Dunkel, das Grauschimmrige, Halbschattige von Lichtkünstlerin Minna Tiikainen verschluckt ihn, gibt ihn unscharf preis, umzuckt ihn mit Lichtblitzen und -schleifen. Ein Solo als Metapher auf den freiwilligen Arbeitssklaven unseres Stresszeitalters und zugleich auf die allgegenwärtige Reizüberflutung – das bleibt im Hirn haften.

„Le Cri“ der in Frankreich lebenden Algerierin Nacera Belaza mag in seiner Kargheit nicht jedermanns Geschmack sein. Aber auf Belazas biographischem Hintergrund formuliert sich in diesem mit ihrer Schwester getanzten Duett eine starke persönliche Aussage: dieser „Schrei“ ist eine Befreiung von dem frühen elterlichen Tanzverbot – ist letztlich die Selbstbehauptung einer Autodidaktin. Während englischer Popsong gegen arabische Allah-beschwörende Klänge ankämpft oder umgekehrt (Belazas Zwiespalt zwischen zwei Kulturen), schwingen die beiden - Derwische des 21. Jahrunderts - immer nur Oberkörper und Arme im Halbkreis, den Blick nach innen gewendet. Bis sie, ein kurzes Mal nur, in wild zuckende Bewegung ausbrechen und am Ende in einer Videoprojektion als virtuelle Körper völlig überdrehen.

Wenn die Stadt nicht ein bisschen mehr locker machen kann, könnte Heun seine TWE nach 22 erfolgreichen Jahren aufgeben. Heun, auch Chef des Tanzquartiers Wien, hat schon einige Angebote zu auswärtigen Festival-Leitungen. Für München jedoch wäre es ein Verlust.

bis 09.08.
 

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