Alice im Bann der Verführung

Eine Performance der MS Schrittmacher durch das Forum Steglitz

Wie Alice in der Shoppingmall. Dem Künstlerkollektiv MS Schrittmacher gelingt die Verfremdung des Alltäglichen messerscharf und unterhaltsam.

Berlin, 31/07/2013

Märchenhaft putzig geht es hier nicht zu. Choreograf und Regisseur Martin Stiefermann hat auch in seiner diesjährigen Wunderland-Tour den doppelten Boden eingebaut und den schonungslosen Blick auf menschliche Widersprüche und gesellschaftliche Abgründe gerichtet. Seine inszenatorischen Einfälle verdichten assoziativ die handfesten Absurditäten zwischen Verführung und Verführbarkeit. In Lewis Carrolls Kinderbuch-Bestseller (1865) mäandert die siebenjährige Alice fragend mit grinsender Katze und weißem Kaninchen durch ein Wunderland zwischen Traum und Albtraum. Alices Abenteuer beschreiben in Groteske und Nonsens zugleich Gegenwelten zu den didaktischen Lehrsätzen der Viktorianischen Epoche.

Bei Stiefermann im 21. Jahrhundert ist Alice eine gestresste Frau um die Vierzig, die im Auf und Ab der Rolltreppen auf der Suche nach einem Job als Aushilfe fast ihr Ich verliert, doch nicht unter die Räder kommen will. Die Zuschauer begleiten Alice vom surrealen Keller-Labyrinth mit Weihnachtsdekorationen bis hinauf in die Waren-Welten, Etage für Etage, Geschäft für Geschäft. Nach dem Untergeschoss, wo Alice in rote Heels wechselt, im Beauty-shop auf brutal verordnete Gesichtslosigkeit trifft, die Natur nur noch im Bioladen verortet, gerät sie selbst in Kaufrausch, wird von der Raupe/Herzogin (Effi Rabsilber) genötigt, durch Kleidung zu mutieren bzw. im Sportshop ihre personality upzugraden. Im Küchenstudio der 5. Etage jagt Alice dem Trend müden Hutmacher (Andreas Ühlein im Vertretergeschwafel) die letzten Gratisproben ab. Der finalen Steigerung – Rabattkrieg an der Warenausgabe – kann sich Alice entziehen.

Die Verfremdung des Alltäglichen (ganz im Sinne B. Brechts) gelingt dem Künstlerkollektiv MS Schrittmacher messerscharf und unterhaltsam. Antje Rose gibt ihrer Alice Power und Verletzlichkeit. Im Bewerbungskostüm hetzt und hechtet sie durch die Welt des Konsum und der falschen Freuden von Ablenkung zu Ablenkung. Nach dem Warenhaus Karstadt am Herrmannplatz (März 2012) avanciert nun die riesige Shoppingmall Forum Steglitz bei laufendem Betrieb 2013 zum Wunderland der Verführung und Verführbarkeit. Ein großartiges Ambiente für MS Schrittmacher, bekannt dafür mit eigenwilligen Produktionen neue Perspektiven auf unsere Lebenswelten zu eröffnen. Regisseur und Choreograf Martin Stiefermann und seine virtuosen Performer folgen in Tanz und Spiel einer klaren Figuren- und Szenendramaturgie mit einer genau kalkulierten Fülle an inszenatorischen Details - so gleitet eine Frau knochenlos an einer Glasscheibe zu Boden, eine andere zuckt auf dem Massage-Stuhl, eine lebende Werbefigur mit Waschmittelflasche lächelt, ein Tanz-Werbe-Video läuft auf dem Flachbildschirm, beim 2. Mal bricht das hyperagile Kaninchen (Nicky Vanoppen) davor weinend zusammen. Anspielungsreicher Wort-Witz (Text: Hartmut Schrewe) und musikalischer Sound (Musik: Sir Henry) geben den Akteuren besten Spielraum.

Neue Menschen braucht die Arbeitswelt. Doch die Arbeitsverhältnisse sind auf dem Kopf gestellt. Verkäuferinnen balancieren Waren auf dem Kopf, lernen auf dem Bauch zu kriechen, mit Sale-Würfeln und aufblasbaren Prozenten zu posieren. Sie können doch nicht alle feuern, ruft Alice dem Centermanager-Paar König (!) entgegen. Auch Grinsekatze (Jorge Morro) tanzt als Security aus der Reihe gegen seine Kündigung mit dem eiskalten Königspaar (Efrat Stempler, Florian Schmiemann gern auch mal mit großen Posen, Hebungen und Sprüngen) an. Dann führt er Alice im Tangoschritt bis sie einander erkennend seinen Namen ruft. Voll echter Empörung interveniert Alice gegen die Pseudo-Promi-Lesung, verweigert die Annahme des geschrieben Mülls. Sie sucht normale Menschen.

Die 80-minütige Performance des Künstlerkollektivs MS Schrittmacher balanciert im fünfzehnten Jahr ihres Bestehens mit „Alice im Wunderland“ abgründig, grotesk und komisch auf dem schmalen Grad des permanenten Abgleitens in den „bunten Schlamm“ (A. Seghers). Hereinspaziert und die Sinne geschärft: Das Forum Steglitz in der Schloßstraße 1 ist die Bühne – Alice, die Heldin – das Stück, wir alle.

1. - 3. August und 6. - 10. August im Karten-Kontor im Forum Steglitz
 

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