„The Desert“ von Helge Letonja

„The Desert“ von Helge Letonja

Alles, was leer ist

Choreograf Helge Letonja beendet mit „The Desert“ seine Trilogie zu wechselnden Identitäten

Mit „The Desert“ endet Letonjas 2011 gestartete Trilogie „DisPLACING Future“.

Bremen, 24/06/2013

Von Tim Schomacker

Was leer ist (oder zumindest scheint), eignet sich prima zur Projektionsfläche: Die weiße Walhaut wie bei Moby Dick, des Weltraums unendliche Weiten, das Meer vom alten Mann. Stets umkreisen zwei Figuren die menschliche Existenz: Angst und Sehnsucht. Auch die Wüste gehört zu solchen leeren Orten. Was da alles hineinpasst, hat literarisch unlängst etwa Wolfgang Herrndorff mit seinem Roman „Sand“ erkundet. Auch der austro-hanseatische Choreograf Helge Letonja schickt sein Tänzer/innen-Quintett in die Wüste.

Das Tanzstück „The Desert“ bildet den Abschluss seiner dreiteiligen, vor zwei Jahren begonnenen Untersuchung „DisPLACING Future“ (wahlweise mit deplatzierende Zukunft oder Ent-Ortung der Zukunft zu übersetzen). In der Bremer Schwankhalle ist die „Wüste“ ein helles Quadrat. Eine Ecke zeigt in den Zuschauerraum. Das Quadrat leuchtet oder verschwindet je nach Bühnenlichteinfall. Manchmal laufen hasenartige Figuren darauf herum. Doch dazu später.

Zunächst erwacht ein gefiedertes Wesen. Aus einem Körperballen arbeitet sich Konan Dayot mittels oft winziger Gliedmaßenverschiebungen in die Aufrechte, bricht dann wieder zusammen. Aufrichten und Zusammenbrechen ziehen sich wie Pulse motivisch durch gut 60 Minuten Spieldauer. Wie in vielen Vorgängerstücken auch hat Letonja ein überschaubares, dabei internationales und mit verschiedenen tänzerischen Schwerpunkten ausgestattetes Ensemble zusammengestellt.

Ibrahima Biaye brilliert mit einem konzentriert amphibischen Bewegungsmustern nachspürenden Solo ebenso wie Blenard Azizaj mit nahtlosen Übergängen zwischen erzählerischem Sprechen und schnellhektischen Bewegungsfiguren. I-Fen Lin lässt eine ausgestreckte Hand (derer sich niemand sie schüttelnd annimmt) raumgreifend ins Leere laufen, durchmisst aus dem Stand durch den nächsten und übernächsten Versuch der Kontaktaufnahme, immer ein paar grad weiter gedreht, den Raum. Und Virginia Gimeno Folgado übersetzt die gebrochene polyrhythmische Struktur der elektronischen Bühnenmusik Robert Merdzos in ein fulminant-verquertes Bewegungsmuster.

Dass die fünf Akteur/innen irgendwie auch drei Kontinente und eine über die Fünfzahl weit hinausgehendes Bündel an Herkünften und Hintergründen vertreten, ist durchaus programmatisch zu verstehen. Letonjas Wüste ist ein Nirgend-Ort, an dem nicht dargstellt wird, was ist – sondern ausprobiert, was sein könnte. Früher nannte man das mal Utopie, in der thematischen Rahmung der „DisPLACING Future“-Trilogie heißt das: Transkulturalität. Vermeidet man, wie Letonja und sein Produktionsteam das augenscheinlich tun, bei seiner Recherche klare Illustrationen und etablierte Erzählformen und gesteht den internen Prozessen, Annäherungen und Auseinandersetzungen einiges an Gewicht zu, läuft man natürlich Gefahr, dass sich im Sprung auf die Bühne und vor’s Publikum einiges davon verliert (oder nicht mitteilt). Schließlich ist Transkulturaliät ein Konzept. Und von denen kann man choreographisch zwar ausgehen – tanzen lassen sie selbst sich nicht.

Bisweilen scheint sich „The Desert“ in der Freude an der eigenen Bilderfolge ein wenig zu verlieren. Doch zum Glück gibt es die Hasen. Oder besser: diese humanoiden Wesen, deren Fell und Kleid sich zwischen Hase (Maske), Zebra (Anzug) und Leopard (Hemd) nicht entscheiden kann – oder will. Diese Zwischenwesen gruppiert Letonja zu mal raumgreifen simplen, dann wieder tänzerisch komplexen Bewegungsmustern zusammen. Dass hier die Identitäten permanent wechseln (Wer steckt grad drin im Kostüm? Wer steckt grad drin in der Formation?) gelangt näher heran an den thematischen Rahmen als ein lahmer Fragenkatalog („Warum bist Du so anders?“ oder „Was ist Deine Realität?“), der an einer Stelle aufgesagt wird. Das programmatische Dazwischen wird noch einmal aufgenommen, wenn I-Fen Lin eine ganze Weile ihre Figuren mit – nur einem! – stöckeligen roten Lackschuh tanzt.

Die prägnanteste Sequenz des Abends indes entzieht sich – obwohl sie eigentlich ganz klar scheint – angenehm der deutlichen Deutung: in rasanter Folge räumen vier Tänzer/innen das weiße Quadrat ab. Reißen, ratsch!, den Kleber weg, werfen Stück klatschend an die Bühnenseite. Legen und falten die Reste hastig so, dass weiße Ober- und schwarze Unterseite ständig neue geometrische Muster ergeben. Und die Schwarz-Weiß-Gegensätze sich im Dauerwechsel verlieren. Indem nicht der Blick, sondern die Projektionsfläche selbst abgeräumt wird, entsteht ein tatsächlich utopischer Moment.

„The Desert“ ist noch am 22 und 23., sowie vom 26. bis 29. Juni in der Schwankhalle Bremen, Buntentorsteinweg 112 zu sehen.
 

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