Dave St. Pierre in  „Over my dead body“

Dave St. Pierre in „Over my dead body“

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Das dok.fest München zeigt Brigitte Pouparts Film „Over my dead body“ über den kanadischen Choreografen Dave St-Pierre

Zwei Jahre bangt und hofft Dave St-Pierre auf eine Spenderlunge, die sein Leben retten kann. Zwei Jahre, die im Film an einem Zeitstrahl entlang erzählt werden. Monat um Monat vergeht.

München, 11/05/2013

Gelbliche Flüssigkeit tropft über ihr Gesicht, verklebt ihre Augenlieder. Sie schluchzt, ringt nach Atem. Wirft sich zu Boden, beugt sich. Die Mischung aus Ketchup, Marmelade und Kakao lässt sie würgen. Doch keine ihrer Hände wischt über das Gesicht. Sie, das ist eine Tänzerin in Dave St-Pierres Workshop in München im März 2011. Seit Tagen erprobt der kanadische Choreograf seine Ideen, reizt unerbittlich Grenzen aus. Er ist bekannt für seine radikalen Stücke, die tief berühren aber auch schockieren können. Diese Szene wird wohl im Gedächtnis bleiben, ist sie doch kein Spiel mit Fiktion, sondern real. Ein Leiden, das ein unwohles Gefühl im Sessel des Zuschauers aufsteigen lässt.

So real eben, wie die Verzweiflung und der Kampf des an Mukoviszidose kranken Dave St-Pierre, den Brigitte Poupart in ihrem Film „Over my dead body“ über sein Warten auf eine Spenderlunge eingefangen hat. In München hatte er diesen Kampf bereits überstanden. In seinen Erzählungen wirkte dieser fern, nur die unzähligen Tabletten, die er tagtäglich schlucken musste, erinnerten noch an die fremden Körperpartien an ihm. Lungenflügel, die ihm das Leben retteten, ihm ermöglichen, weiter zu arbeiten, ihn von seiner Sauerstoffflasche befreit haben, die im Film sein steter Begleiter ist.

Zwei Jahre bangt und hofft Dave St-Pierre. Zwei Jahre, die im Film an einem Zeitstrahl entlang erzählt werden. Monat um Monat vergeht. Wieder ist ein Tag vorüber. In einem komplexen Zeitgeflecht wird die Geschichte seiner Krankheit in verschiedene Kapitel aufgeteilt. Mit 29 gibt er die Tänzerkarriere auf, beschließt Choreograf zu werden. Das lange Warten auf eine Organspende beginnt, dreimal wird die Operation kurz vorher wieder abgebrochen werden, da es Komplikationen mit der Spenderlunge gibt. Währenddessen ist sein Körper gefangen zwischen Schläuchen und Kabeln, zwischen Einsamkeit und Ablenkung, bäumt sich immer wieder auf und scheint zu zerbersten – vor Leben und Krankheit gleichermaßen. Ruckartig hebt sich der Brustkorb. Dann krümmt sich der nackte Leib in der Badewanne. Surreale Bilder einer Bühnensituation, die eben doch keine ist. Denn nicht immer passiert das nur den anderen.

Dazwischen sind Bilder geschnitten, in denen Dave St-Pierre im weißen Anzug an Nicht-Orten wandelt. Bahngleise, ein Hausdach, am Ufer eines Flußes. Er steht auf der Schwelle, befindet sich im Dazwischen, ist weder tot noch lebendig.

Zugleich läuft der Alltag weiter. Seine Stücke - „La Pornographie des âmes“ und „Un peu tendresse de la merde“ entstehen in dieser Zeit – touren in Europa. Er liebt die raue Energie, Brutalität und zieht sie ästhetisch choreografierten Bewegungen vor. Krachend lassen sich die Tänzer zu Boden fallen, gleiten nackt über den mit Wasser benetzten Boden. Sie tanzen, während er zu sterben droht. Aber was sollten sie sonst machen?

Perspektivwechsel. Ein Anruf aus dem Krankenhaus. Die chronologisch erzählte Zeit bleibt plötzlich stehen, leere Räume weisen auf einen abwesenden Körper hin, frieren die Zeit ein. Stillstand, während Dave St-Pierre im OP-Saal liegt. Er berichtet, scherzt, erklärt, unterbrochen von der Stimme Brigitte Pouparts, die nicht objektiv bleiben kann, vielleicht gar nicht darf und auf einer Metaebene zwischen Distanz und Nähe pendelt. Dazu mischen sich im Laufe des Films Interviewsequenzen mit seinen Tänzern, Eltern und den Ärzten. Das alles ist wunderbar unpathetisch. Ein offener Umgang mit der Thematik von möglichem Tod und der (Un)Versehrtheit eines Körpers, der am Ende gebrochen wird. Obwohl man als Zuschauer weiß, dass nun die Operation glückt, endet der Film im Black, lässt die Geschichte der Bilder sterben und erzählt die weiterhin von Krankheit geprägten Zukunft Dave St-Pierres zu pompöser Musik. Auf diese Weise verliert der sensibel erzählte Film, dessen Bilder zwischen Alltäglichem, einer künstlerischen Reflexionsebene und der steril-technischem Krankenhausatmosphäre wechseln, so viel an Kraft, dass man doch etwas ratlos zurück bleibt.

 

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