São Paulo Companhia de Dança
São Paulo Companhia de Dança

Sinnlich, unruhig und widerständig

Die São Paulo Companhia de Dança zeigt bei MOVIMENTOS in Wolfsburg einen facettenreichen Einblick in ihr Repertoire

Hautfarbene, knielang schwingende Lagenkleider und dazu ein origineller, weil ganz am Oberkopf gebundener Dutt.

Wolfsburg, 19/04/2013

Über diese scheinbare Nebensächlichkeit sinniert man auch irgendwann, während man beeindruckt der Choreografie von Rodrigo Pederneiras im Heizkraftwerk Nord/Süd des VW-Standortes Wolfsburg folgt. Das monumentale Industriebauwerk mit seinen hohen, aufgerissenen Mauerwänden und Stahlträgern beherbergt seit 2003 unter dem Aufruf „Movimentos“ den Tanz. Die Festwochen der Autostadt bilden ein finanzstarkes, ehrgeiziges Festival, das für die Menschen in der Region auf dem Weltmarkt der Tanzkompanien und Choreografen abgreift, was zu den Spitzenprodukten gehört und diese als ebensolche bestätigt. Wertvoll für den Zuschauer daran ist, kurz nacheinander schlichtweg in verschiedene Ensembles, ihre Eigenarten und ihren Esprit hineinspüren zu können, ohne für viel Geld teuer durch die Welt reisen zu müssen. Und das macht bei der erst seit fünf Jahren bestehenden São Paulo Companhia de Dança aus Brasilien besonders viel Freude.

Die schwingenden Kleider, kreiert von Maria Luiza Malheiros, gehören zu dem vor einem Jahr uraufgeführten und nun erstmals in Europa zu sehenden „Bachiana No. 1“ auf Musik des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos. Rodrigo Pederneiras, in Wolfsburg bestens bekannt als Choreograf der Grupo Corpo, verlangt seinen strahlenden, vitalen Tänzern viel ab. Eine präzise ausgeführte, schnelle Beinarbeit ist hier aus den Impulsen der Musik heraus gefragt. Rasante Schritt- und Richtungswechsel, Minisprünge und Fokuswechsel, alles bei aufgerichteter Achse, auf kleinem Raum um den Körper und dabei lange Bahnen überdie Bühne querend. Oft liegen die Arme lang nach unten am Körper, um das Bewegungsereignis der Fuß- und Beinarbeit auf Musik noch mehr zum Ausdruck kommen zu lassen, oder nur ein Arm wird parallel in Bewegung gebracht.

Die Körper - und Bewegungschoreografie ist nicht reduziert, sondern wirkt durch ihre Ausgewogenheit und die raffinierte Schlichtheit ihrer Bewegungsmittel. Sie spiegelt das Wissen eines seit über dreißig Jahre für den Tanz arbeitenden Mannes um das richtige Maß. Lockere Eleganz und authentische Sinnlichkeit entfalten sich und berühren im Innern. Denn Rodrigo schafft eine Körperstruktur im Raum, die unberechenbar scheint. Das macht das Stück meisterhaft. Es beginnt mit Paaren und kehrt immer wieder zu dieser Struktur zurück. Alle bewegen sich unterschiedlich, doch manchmal bewegen sich zwei Paare synchron, eines different. Dann sind alle Tänzer im Gleichschritt, und man wundert sich, wie man die Herstellung dieser Übereinkunft verpasst hat.

Aber das Auge konnte sich kaum entscheiden, wo es hängen bleiben sollte. Es ist angesichts der asymmetrischen Verteilung dieser gleichzeitigen oder sich voneinander unterscheidenden Bewegungsinseln herausgefordert. Diese Erfahrung macht man auch auf andere Weise mit dem für sich stehenden Pas de deux, getanzt von Karina Moreira und Joca Antunes. Pederneiras arbeitet hier mit dem Prinzip der Umkehrung: Jeder beispielsweise durch den Oberkörper konvex gestalteten Bewegungslinie folgt die konkave Entsprechung; startet die Bewegung mit einem schmalen Ronds de Jambe am Boden, wird sie in mehreren Schritten aufwärts geführt, bis sie in einer Handbewegung weit über dem Kopf ihren Höhepunkt findet, um dann wieder zurückgeführt zu werden.

Nicht Emotionalität treibt hier die Bewegungsführung an, sondern Musikalität und schlichtweg das Interesse an einem harmonischen, architektonischen Aufbau von Bewegungen vor allem aus Attituden, Passés und Pirouetten der Tänzerin im Arm ihres Partners. Jeder Inhalt ist hier der Form untergeordnet, so kommt man der Machart dieses Stückes im Stück auf die Schliche, während man sich der starken Hingabefähigkeit der Tänzer seelig ergibt.

Dieses hohe Niveau halten die Tänzer auch in den beiden weiteren Stücken des Abends: „Inquieto“, geschaffen von Henrique Rodovalho, der bereist 2010 als Choreograph der Quasar Companhia de Dança bei „Movimentos“ zu Gast war, und „Peekaboo“, eine Uraufführung von Meisterchoreograf Marco Goecke. Lustig ist, dass das, was „Inquieto“ zum Ausdruck bringen soll, weitaus stärker als Inhalt von Goeckes Stück ausgewiesen werden kann. Die dort feststellbare, existenzielle Lebensunruhe ist in Goeckes neuestem Werk wie so oft greifbar, während sie in „Inquieto“ irgendwo zwischen ewig lang über die Bühne gezogenen Schnüren verschwindet. Doch der Reihe nach.

Drei Tänzer stehen in jeansartigen Kostümen, lässig und cool gekleidet, nebeneinander vorne am Bühnenrand. Der linke lächelt und wird sich während des ganzen Stückes nicht bewegen. Als sich sein rechter Partner bewegt, schaut er nur kurz zu ihm, nimmt Kontakt auf. Nach kurzer Zeit beugt sich die Frau in der Mitte nach unten, zieht das Schnurende eines Seils wie von Zauberhand geführt nach oben und führt es als straffe Linie durch den Raum. Dies wiederholt sie annähernd zwanzig Mal bis der ganze dunkle Raum mal durchzogen ist wie ein Spinnennetz, dann wieder wieder wie ein abstraktes Gemälde.

Zunehmend füllt er sich zu einem geschmeidigen Electro-Soundtrack von Andre Abujama mit lauter Soli, deren Bewegungssprache schnörkellos dem modernen Mainstream zwar folgt, jedoch wegen der Idee von Folgerichtigkeit einer Bewegung – immer geht hier darum zu schauen, wo es die Bewegung noch hinführt – durchgehend lebendig bleibt. Tiefe, wenn auch nicht genug – denn dafür zieht es sich zu arg in die Länge und lässt zudem den dramaturgischen Klimax innerhalb des Stückes vermissen – erhält das Stück durch den Kniff, dass die wandernde Tänzerin ihr Seilende mit dem Anfang kurzschließt und in die Ausgangssituation zurückkehrt. Das volle Bild der Seile und Soli verschwindet im Dunkeln. Erneut stehen die drei da. Der linke lächelt. Fertig.

War das Geschehene eine Abbild einer vollen Welt um ihn, mit der man manchmal einfach nur noch so umgehen kann, dass man still stehen bleibt? War es seine Innenwelt? Ein Blick in seine Nervenbahnen? Man weiß es nicht. Was bleibt ist Unruhe. Thema und Titel des Stückes entfalten sich als Wirkung auf den Zuschauer. Auch spannend.

Fast zuhause fühlt man sich beim Anblick des neuen Goecke-Stückes, das die brasilianischen Tänzer perfekt umsetzen. Ein Solotänzer, dahinter jeweils einzeln und für sich stehend, die Gruppe, wie immer in schwarzen Hosen, die Männer mit einem breiten, silberfarbenen Bauchgürtel bestückt, die Damen wahlweise auch mit hellblauem Bustieroberteil mit hängenden Riemchen. Bis auf den Solotänzer vorne halten alle Melonen vor's Gesicht, frei nach dem Kinderspiel „Kuckuck!“, bei dem man sich verbirgt und dann wiederentdecken lässt. Benjamins Britten „Simple Symphony“, ein rauh klingender finnischer Chor und das Thema Kindheit bilden den mentalen und thematischen Bezugsrahmen, aus dem Goecke seine Bewegungen modelliert.

Bemerkenswert: So präzise wie vielleicht noch nie geht Goeckes Choreografie in Korrespondenz mit der Musik. Weiterhin folgt er dabei seinen Grundinteressen: die Erforschung der Bewegungsmöglichkeiten des Körpers und damit dessen Formulierung: Rudern mit den Ellenbogen, Wedeln der Hände und der Fäuste, ruckelnde Richtungswechsel um jeweils 45 Grad, flinke, schnell geleistete Fußarbeit. Goeckes Körper faszinieren seit jeher, weil sie mehrfaches gleichzeitig Ausdruck bringen: die Geworfenheit des Menschen in sein körperliches Dasein, das grundsätzlich mit Leiden verbunden ist; die Verformungen, die die Seele durch die sozialen Zusammenhänge erlebt, denen der Mensch von Anfang an ausgesetzt ist; das Ausgeliefertsein des Tänzers, der dem Choreografen seinen Körper zur Verfügung stellt; schließlich das Ungebärdete, das Explodierend-Vitale, das Ausstellen dessen, was für Momente von niemandem beherrscht werden kann.

Erneut erlebt man frontal dem Zuschauer in die Augen sehende, atmende schnaufende, durchhaltende, zappelnde, wie schreiende, weil verformte, aber kraftvolle Körper mit einer widerständigen, sich behauptenden Seele. Kindheit als Spielzeit und als Angstzeit – davon zeichnet Goecke in „Peekaboo“ ein eindrucksvolles, vor jeder Darstellung davon rennendes Bild.
 

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