Andre Costanzo Martini
Andre Costanzo Martini

Lob und Leck des Tanzes

Fragen und Hintergrund zum 17. Internationalen Solo-Tanz-Theater-Festival in Stuttgart

Die Gewinner des 17. Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival stehen fest. Welche Stücke für Furore sorgen, welche siegten und was sich geändert hat, berichtet Leonore Welzin.

Stuttgart, 20/03/2013

„Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge, bindet den Vereinzelten an die Gemeinschaft.“ Mit dem ganzen Zitat des Philosophen und Kirchenvaters Augustinus eröffnet der im Januar frisch gekürte Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn das 17. Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival. Der Stuttgarter „Wettbewerb für zeitgenössische Choreograf/innen und junge Tänzer/innen“ wurde 1996 von Marcelo Santos in Augsburg gegründet, im dritten Jahr zog er von Bayern nach Baden-Württemberg und fühlt sich seither im Treffpunkt Rotebühl heimisch.

Aus 300 Bewerbern hat das Kuratoren-Team Santos (Künstlerische Leitung), Gudrun Hähnel (Festivalleitung), Petra Mostbacher-Dix (Kritik) und Birgit Brinkmann (Kulturmanagement) 18 Stücke ausgewählt, die an drei Tagen über die Bühne gehen, was, nebenbei bemerkt, eine tolle Leistung der Organisatoren und der Technik-Crew ist. Sechs bzw. in diesem Jahr acht Finalisten treten am vierten Tag gegeneinander an. Zusätzlich zum Preisgeld wird für die Gewinner eine Tournee zusammengestellt, die durch Deutschland und Brasilien führt.

Sara Angius aus Italien eröffnet das Finale mit „Star-watchers“ einem in sich stimmigen, poetischen Kleinod. Zu den Finalisten gehören sowohl Solisten, als auch Tänzer-Choreografen-Tandems, wie das der Belgier Min Hee Bervoets (Choreografie) und Gilles Noel (Tanz) mit ihrer Obsession für gesunde Ernährung in „Apples, apples, apples“ (2. Preis Kategorie Tanz). Das in Kassel produzierte „Copy it Right“, eine intelligent konzipierte Tanzperformance der japanischen Tänzerin Maasa Sakano und des kolumbianischen Bausch-Tänzers und Choreografen René Alejandro Huari Mateus sind ebenso am Start. Auch das französische Stück „Open mic. suffocation“ (2. Preis Kategorie Choreografie) des Duos Martin Harriague (Choreografie) und Joachim Maudet (Tanz) und nicht zuletzt die Stuttgarter Produktion „Ritus“ von Katja Erdmann-Rajski, getanzt vom Slovaken Marek Ranic stehen ebenfalls im Finale.

Zum Kreis der Solisten, die ihre eigene Komposition tanzen, zählt neben Sara Angius (3. Preis für Choreografie und Tanz) ihr Landsmann Andrea Costanzo Martini, dessen mit Ironie gewürzte Tanzreflexion „What happened in Torino“ mit dem 1. Preis (ebenfalls in beiden Kategorien Choreografie und Tanz) ausgezeichnet wird. Einen Publikumspreis erhalten der aus Wales stammende Ross Martinson für „Catatonia“ und der Ungar Milan Újvári für „From the waltz to the mambo“.

Fragwürdig ist der 2. Preis der Kategorie Choreografie für „Open mic. Suffocation". Das Stück ist so offensichtlich auf Provokation angelegt, dass man in die Zwickmühle gerät. Der Tänzer, der vorgibt den Goldfisch seiner Ex-Freundin los werden zu wollen, würde ihn gern ans Publikum verhökern, was aber misslingt, so dass er mit einer Nadel das Plastiksäckchen durchlöchert, bis es leckt und immer mehr Wasser herausrinnt. Buh-Rufe und der entschiedene Eingriff einer Zuschauerin mit den Worten „Das ist keine Kunst“, lassen die Stimmung erkalten. Das Stück, das dem paranoiden Geist von Geheimdienstleistern aus der Abteilung ‘Agents provocateurs’ entstammen könnte, ist kommunikationstheoretisch ein typischer Double Bind. Wie man sich verhält ist es falsch: schaut man hin und tut nichts, muss man sich die Kritik unterlassener Hilfeleistung gefallen lassen; zeigt man sich emotional engagiert und greift ein, wertet man die Wirkmacht des Stückes über Gebühr auf.

Warum die Kuratoren das Stück ins Programm genommen haben bleibt ihr Geheimnis. Die Juroren (Susanne Linke, Cathy Marston, Jan Pusch, Sonja Santiago-Brückner und Katarzyna Sitarz) begründen ihre Entscheidung damit, dass das Stück voll unvorhersehbarer Überraschungen sei. Auch der Tierschutz habe nichts dagegen gehabt, da habe man sich zuvor rückversichert.

Derart hochmanipulative Stücke sollten genauer unter die Lupe genommen werden, denn hier geht es nur vordergründig um Tierschutz. Die eigentliche Absicht scheint zu sein, unvorhersehbare Publikumsreaktionen in Deutschland und Brasilien zu testen. Der wehrlose Fisch wird missbraucht, um den arglosen Zuschauer zum Versuchskaninchen zu degradieren. Ist das ein dubioses Experiment obskurer Strippenzieher in Sachen Sozialverhalten und Empörungspotential?

Zu den erfreulichen Seiten des Festivalprogramms gehört die Zweisprachigkeit, zudem kann man die internationale Veranstaltung per Live-Stream weltweit im Internet verfolgen und sich über die Stücke informieren. Dass man per Internet auch Karten bestellen kann, sei eine Erleichterung, sagt Martina Casel: „Früher musste sich mein Mann einen Tag Urlaub nehmen, um an Karten zu kommen, jetzt können wir das in wenigen Minuten erledigen“. Für Hardcore-Fans wie sie ist das Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival ein Muss und zugleich Höhepunkt: „Es gibt immer wieder herausragende Stücke, die man nicht vergisst. Die Qualität der Tänzerinnen und Tänzer ist fantastisch.“ Casel, die sich neben Tango und Tanztheater besonders für Produktionen der Freien Szene interessiert, verfolgt das Festival seit dem ersten Tag. Ihr gefällt zudem, dass das Publikum einen, in diesem Jahr sogar zwei Preise vergibt, denn viele Zuschauer sind kenntnisreich und haben einen tänzerischen Background.

Neben der Vielfalt der konzeptuellen und künstlerischen Ansätze im internationalen Vergleich, wird auch die Möglichkeit Akteure und Choreografen zu befragen, Stücke zu kommentieren und sich die Wartezeit auf das Jury-Ergebnis mit informellen Gesprächen zu verkürzen, gerne wahrgenommen. Dass Tanzproduktionen made in Germany, bzw. Baden-Württemberg deutlich unterrepräsentiert sind, sollte zukünftig thematisiert werden.

Auch die Frage, ob Juroren immer hinter verschlossenen Türen beraten müssen, ist es wert überprüft zu werden. Trotz der Befürchtung, eine öffentliche Jurorenrunde könnte den Entscheidungsprozess verlängern, sollte das erwogen werden, zumal es nicht nur den Unterhaltungswert der Veranstaltung steigern könnte, sondern damit auch ein überfälliger Schritt in Richtung Transparenz und öffentlicher Diskurs gemacht würde.

Um der Weitsicht des Augustinus näher zu kommen, ist es noch ein langer Weg: „Ich lobe den Tanz der alles fordert und fördert, Gesundheit und klaren Geist und eine beschwingte Seele. Tanz ist Verwandlung des Raumes, der Zeit, des Menschen, der dauernd in Gefahr ist zu zerfallen, ganz Hirn, Wille oder Gefühl zu werden. Der Tanz dagegen fordert den ganzen Menschen, der in seiner Mitte verankert ist, der nicht besessen ist von der Begehrlichkeit nach Menschen und Dingen, und von der Dämonie der Verlassenheit im eigenen Ich. Der Tanz fordert den befreiten, den schwingenden Menschen im Gleichgewicht aller Kräfte. Ich lobe den Tanz! O Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen!“, soweit das Zitat. Wer möchte angesichts solcher Vision als Versuchskaninchen durch den Himmel hoppeln?
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern