Gelungene Annäherung an den großen Choreografen Uwe Scholz

„ZEITSPRÜNGE - Leaps in Time“ von Nadja Kadel und Kati Buchart

Uwe Scholz war ein früh Vollendeter und dennoch immer weiter Suchender, dem nur 45 Jahre Lebenszeit vom 31.12.1958 bis zum 21.11.2004 vergönnt waren.

Lüneburg, 05/02/2013

Uwe Scholz war ein früh Vollendeter und dennoch immer weiter Suchender, dem nur 45 Jahre Lebenszeit vom 31.12.1958 bis zum 21.11.2004 vergönnt waren. Mit 22 Jahren bereits ein Choreografievertrag in Stuttgart, 1982 Hauschoreograf, mit 26 Jahren Ballettchef in Zürich, 1991 Wechsel als Ballettdirektor nach Leipzig, zahlreiche Gastarbeiten an großen Bühnen. Eine Karriere wie aus dem Bilderbuch, behaftet mit immer größeren Problemen in der Ensembleführung, mit dem Druck, Inspiration zu produzieren, den eigenen Ansprüchen zu genügen, bis Körper und Seele nicht mehr standhalten können.

Eine beispielhafte Annäherung gelingt jetzt den Herausgeberinnen Nadja Nadel und Kati Burchart in „Zeitsprünge“, einem großformatigen Band, bestückt mit hochklassigen, sorgfältig ausgesuchten Fotos, in denen die künstlerische Bandbreite von Scholz aufscheint, von höchster Ästhetik (z.B. 7.Sinfonie) bis zum brutalen Zugriff (wie im „Solo“ – Sacre).

Kadel und Burchart vermeiden konsequent den angesichts des tragisch grundierten Leben Scholz’ naheliegenden Betroffenheitston. Sie haben einen Weg gewählt, der die sachliche Beschreibung von Scholz’ Balletten koppelt mit der persönlichen Sichtweise von Beteiligten der Produktionen, die die Arbeit mit Scholz beschreiben. Das fügt sich zusammen zu Schilderungen, die zur weiteren Beschäftigung mit den Werken anregen, sei es über das Internet (z.B. Youtube), über DVD oder durch Besuche an Bühnen, die Scholz’ Produktionen im Repertoire haben – und das sind einige, wie Berlin, Leipzig, Stuttgart, Ballett Posen, Dresden, Wien, Tokio, Bratislava etc.. Ein Indiz für die Wirkung seiner Kreationen über seinen frühen Tod hinaus.

Kadel und Burchart steuern den größten Teil der Interviews bei. Immer wieder wird darin Scholz’ außergewöhnliche Musikalität hervorgehoben. Partituren zu lesen, war offenbar kein Problem für ihn, der sehr gut Klavier spielte (bis hin zu Rachmaninow).

Kein Wunder, dass Scholz sich neben den gängigen Ballettkompositionen wie Coppélia, Dornröschen, Schwanensee, Feuervogel auch an große, „absolute“ Musik wagte: Beethovens 7. Sinfonie, 2. Sinfonie von Schumann, gar Bruckners Achte, Sinfonie in drei Sätzen (Strawinsky), dazu Instrumentalkonzerte, Kammermusik. Gabriele Brandstetter kennzeichnet in ihrer konzentrierten Einführung „Choreograf tönend bewegter Formen“ den Standort von Scholz als einen, der die „Tradition des sinfonischen Balletts“ fortführt. Sie spricht von der „Melancholie der flüchtigen Schönheit“, die zuweilen „durchkreuzt“ sei von „verstörenden Zügen des Anderen, Dionysischen“.

Scholz' Oeuvre umspannt den Zeitraum von Bachs „Air“ bis zu Boulez „Notations I-IV“ (Solo mit Vladimir Malakhov!!) . Ballettdirigent André Presser bescheinigt ihm, sensibel mit den Vorlagen umgegangen zu sein, im Gegensatz etwa zu Léonide Massine.

Klar ist, dass Tanztheater zeitgenössischer Prägung bei Scholz keine Rolle spielte. Die Tiefe seines Ausdrucks ergibt sich wesentlich aus dem Tanz. Er schält sich heraus als ein Choreograf mit dem Streben, Tanz mit der Musik zu verschmelzen, ohne sie sklavisch notengetreu zu „vertanzen“. Stilistisch im klassischen Bereich angesiedelt, ist er nicht auf der Jagd nach der originellsten Bewegung, sondern nach der in seinem Sinne adäquatesten zur Musik-Vorlage und Choreografie-Idee. „Es gibt keine Verrenkungen um der Verrenkungen willen. Klarschrift allein ist zugelassen“ (S. 167, Klaus Geitel).

Sein Profil entsteht aus den zitierten Äußerungen über ihn und von ihm: Als sehr verletzbar, aber auch sehr kreativ beschreibt ihn Georg Christoph Biller, Thomaskantor. Von „Seelenlandschaften“ spricht Scholz selber über Bruckners 8. Sinfonie. In Stuttgart „wurde er nicht in Frage gestellt und brauchte sich nicht zu sehr beweisen“, berichtet Tänzerin Christine Bürkle, „Diese Sicherheit fehlte ihm bei seinem späteren Direktorenposten.“ Und Ausstatterin Rosalie erzählt von der Zusammenarbeit: „Unsere Kunstarbeit war unentwegt gemeinsam bewegter Ausnahmezustand.“ Tänzerin Christine Jaroszewski meint: „Er war ein hypersensibler Mensch und vielleicht in mancher Hinsicht zu zerbrechlich, um mit banalen, alltäglichen Belangen und der Politik in einem Theaterapparat zurechtzukommen. . . . Die Liebe zum Tanzen, die ihn umgab, war einzigartig.“ Mark McClain merkt an, das Balanchine Zitat, man solle an einem Ballettabend den Tanz hören und die Musik sehen können, „kann man sehr gut auf Uwe beziehen“.

Die quasi materielle Grundlage für das Verstehen des Choreografen liefert Volkmar Draeger: Er beschreibt die ausgewählten 16 Choreografien ohne Umschweife, prägnant, plastisch auf den Kern konzentriert, geht auch auf „Entstehung und Wirkung“ ein, so dass im Verein mit den stimmungsvollen, prachtvoll gedruckten Fotos vor dem inneren Auge ein Eindruck des jeweiligen Werkes entsteht.
Das chronologische Werkverzeichnis umreißt den großen Zeitraum, den Scholz durchschritt: von Bachs „Air“ bis zu Boulez „Notations I’-IV“. Vom Solo bis zum großen Ensemble reichten seine Besetzungen.

Biographische Daten ergänzen das Bild eines außergewöhnlichen Choreografen, der wohl das Zeug zum Klassiker hat. Wie eine Bestätigung liest sich die jüngste Nachricht: Die von der Kulturstiftung des Bundes initiierte TANZFONDS ERBE fördert unter anderem die Rekonstruktion des Balletts „Pax Ouestuosa“ (Der klagende Frieden, 1992) von Uwe Scholz (Musik von Udo Zimmermann) durch das Leipziger Ballett.

„Zeitsprünge“ führt die Leser unaufdringlich kompetent, zugleich spannend ein in die Welt des Uwe Scholz: eine vorbildliche Publikation, empfehlenswert für professionell Interessierte und Liebhaber des Tanzes.

 „ZEITSPRÜNGE - Leaps in Time“ von Nadja Kadel und Kati Buchart (Hg.), deutsch/englisch. hier bestellen! Euro 34,90 (zzgl. Versand 4,50 Euro)

 

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