„Der Bau“ von Isabelle Schad und Laurent Goldring

„Der Bau“ von Isabelle Schad und Laurent Goldring

Karte der Intensitäten

Die Kafka-Erzählung „Der Bau“ bietet dem neuen Tanzstück von Isabelle Schad und Laurent Goldring eine dynamische Vorlage. Auf den Bühnenraum übertragen lässt sie sich nicht.

Berlin, 02/02/2013

Als Kafka und Max Brod zusammen die Thüringer Wartburg bestiegen, hatten sie Gesellschaft von einem geschäftstüchtigen Kind, das sich als Fremdenführer anbot. Offenbar muss Brod den Kleinen danach gefragt haben, welche Bücher er von Goethe kenne. In seinem Tagebuch notiert er dann ironisch: „Der Knabe kennt von Goethe: 1) Rübezahl und der Glashändler und 2) Zu Dionys dem Tyrannen“. Man könnte diesen Jungen nun für ein höchst sensitives Kind halten und einen Essay darüber verfassen, was er wohl mit dieser Titelmixtur und den darin enthaltenen Hinweisen auf Volksmärchen und Schiller so gemeint habe.

Ähnlich große, dabei aber bewusst gestreute Distanzen sind im Tanzbereich immer mal wieder von Ankündigungstexten zu Bühnengeschehen zu überwinden. Das kann für Tanzwissenschaftler vielleicht produktiv wirken. Für ein Publikum, das nicht nur Arbeit haben will, sondern auch ein bisschen staunen möchte, sind es eher unerfüllte Versprechen. Auf dem Programmcover zu „Der Bau“ von Isabelle Schad und Laurent Goldring steht als Motto: „Auch der Raum ist ein Organ“. Von „atmenden Räumen“ zu sprechen, ist zweifellos Volksmund-Vokabular. Auch zu „verstopften Räumen“ lässt sich noch etwas assoziieren. Man könnte nun vom Sprachgebrauch darauf schließen, dass ein Raum entweder eine Lunge oder einen Darm hat, oder dass er selbst ein lungen- oder darmähnliches Organ ist. Oder sich darüber hinaus von Schads und Goldrings langjähriger Erfahrung mit Räumen dazu verleiten lassen, sich einfach auf die Imagination eines abstrakten Raumorgans einzulassen.

Aber leichtgemacht wird das in der Premiere von „Der Bau“ nicht. Der Raum in den Weddinger Uferstudios ist zunächst eine Blackbox. Zentriert wird er durch einen großen Lichtkasten am Bühnenhimmel, dessen Stoffmembran das weiße Licht etwas sämig erscheinen lässt. Ein Raum im Raum entsteht dadurch allerdings noch nicht. Der Lichtinstallation gelingt schlicht keine Bündelung – der Raum bleibt stumpf, unsinnlich und undynamisch. Damit erreicht der bildende (Medien-)Künstler Laurent Goldring das Gegenteil von dem, was er beispielsweise mit Benoit Lachambre und „Is you me“ vorführte, wo er per Projektion Live-Zeichnungen auf die Bühne warf, die dann der Raum wie von selbst zu verschlingen und zu verdauen schien, so dass eine schwindelerregende Palimpsest-Grammatik entstand. Mit Isabelle Schad arbeitet er seit Jahren an der skulpturalen Dimension von (bewegten) Körperproportionen. So wurde in der Vorgängerserie „Unturtled“ das Prinzip der Kleidung als Körperhülle verselbstständigt. Die Kleidungsstücke, eigenlebige Membranen, verzerrten den Körper bis er seine gewohnte Erscheinungsordnung aufgeben musste.

Für „Der Bau“ bleiben von Pullis und Hosen nun nur noch Stoffbahnen um den nackten Leib herum übrig. Sie werden von Isabelle Schad ritualhaft rhythmisiert, übergeworfen, gefaltet und geknäuelt, bis die Tänzerin schließlich – nach ausdruckstanzartigen Szenen – ganz in einem Labyrinth der Stoffbahnen verschwindet wie das dachsartige Kafka-Ich in seinem Bau. In der unvollendeten Erzählung aus Kafkas letztem Lebensjahr werden, wie in seinen Tiererzählungen üblich, die unbewussten, organischen Körperfunktionen einem bewussten Ich überantwortet und dadurch zur manischen Aufgabe in einem klaustrophobischen Innenraum. „Das Tier-Werden ist eine bewegungslose Wanderung auf der Stelle, die sich nur in Intensität erleben und begreifen lässt. (...) Es ist eine Karte der Intensitäten.“, schreiben Deleuze-Guattari über Kafkas Erzählungen. Dieser Aspekt könnte der körperlichen Ausdauer und Präzision von Schads Materialanverwandlungen Pate stehen. Nur scheint der Raum um diese „Karte der Intensitäten“ weniger ein Organ als ein gefräßiges schwarzes Loch.
 

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