Ort der Tränen

"Lachrimae mundi" von Daniel Goldin im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Münster

Münster, 25/11/2000

Der Blick zerfließt, die Augen schwimmen, eine Träne zittert am Wimpernrand, löst sich und perlt die Wange hinab. Schnitt. Auch wenn man sie tausendmal gesehen hat, verfehlt diese erste Träne nie ihre Wirkung; schmerzlich schön und lustvoll, sorgt sie für gesteigertes Empfinden und Mitgefühl – nicht zuletzt mit sich selbst. So erhebt sie und fördert den Selbstgenuß: „To see, to hear, to touch, to kiss, to die / With thee again in sweetest sympathy.“ Die Träne der Liebenden als Ikone der Trauer an der Welt – dass für die Trauer in der Welt andere fließen, wußte John Dowland in seinem Anfang des 17. Jahrhunderts entstandenen Pavanenzyklus „Lachrimae, or Seven Teares“. Er nannte darin etwa die „wahren Tränen“ oder die „traurigen“.

Tränen der Welt, „Lachrimae mundi“, nennt Daniel Goldin, in der fünften Spielzeit Leiter des Tanztheaters der Städtischen Bühnen Münster, sein neuestes Werk und bezieht sich musikalisch neben Johann Sebastian Bach und spanischer wie keltischer Musik aus Barock und Shakespeare-Zeit ausdrücklich auf John Dowland. Goldin ruft das Leid der Welt im fürchterlichen Dröhnen der Bombenflugzeuge ab und versinnbildlicht die Wehmut des Liebenden mit einer Rose in der kraftlosen Hand. Er zeigt die Trauer als Gefängnis, das einen versteinern lässt, und beschließt das gut einstündige Stück mit den Tränen der Freude und des Glücks. Diese feuchte Spur führt längst nicht zu allen Situationen, die potentiell zum Taschentuch greifen lassen, aber das ist auch nicht wichtig. Entscheidend ist, dass sich Daniel Goldin in „Lachrimae mundi“ auf seine Wurzeln besinnt, auf die klaren expressiven Formen, die ihm die nach Argentinien emigrierte Ausdruckstänzerin Renate Schottelius in seiner Heimatstadt Buenos Aires einst vermittelt hat. Und zugleich scheint er mit dieser Arbeit eine neue Richtung eingeschlagen zu haben, die wegführt von den Ausflügen ins Tanztheater, hin zu einer abstrakten plastischen Bewegungssprache im schwarz ausgeschlagenen Raum (Licht: Reinhard Hubert).

Zu Beginn stehen einem die zehn Tänzer der Kompanie auf der kleinen Bühne des Kleinen Hauses der Städtischen Bühnen gegenüber, sie treten – unter den langen violetten Röcken und Hosen (Kostüme: Gaby Sogl) kaum sichtbar – von einem Bein auf das andere, bis einer aus dem Gleichschritt ausbricht, ein zweiter folgt, ein dritter, bis die gesamte Gruppe in markante Bewegungen fällt: Die Unterarme, abgewinkelt vor das Gesicht gehalten, vibrieren in einem großen Zittern, die Hände in einem kleinen, sie schlagen weit nach außen auf, fassen sich dann wieder und weben erneut an dem sich auf Hände und Arme konzentrierenden Tanz. Allmählich werden die Schritte größer, greifen in den Raum, Becken schwingen. Torsionen. Öffnen und Schließen. Hoch und tief.

Goldins ideenreiche Bewegungssprache hat vor allem in den Gruppenszenen eine neue Qualität erreicht: Formationen der Tänzer wie einzelne Posen scheinen von der Bildhauerkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst; sie sind hart konturiert, scharf geschnitten und gänzlich unsentimental (bis auf das Solo der Schönen im weißen Reifrock, die in allzu exquisitem Kunstgewerbe zu Boden geht).

Hier gelingt dem Choreographen eine Ikonizität, die aus dem Bildspeicher der Trauer und Verstörung schöpft und diese Bilder über den bewegten Körper ins Zeitlos-Allgemeingültige transponiert. Da hält man den Atem an. Diese Konzentration prägt jedoch nicht den ganzen Abend. Gerade im Kontrast zu den starken Gruppenformationen, die „Lachrimae mundi“ wie in einen wuchtigen Rahmen fügen, sacken die Soli und Duette ab, hängt die innere Spannung durch, wenn wieder und wieder der gleiche langsam-düstere Auftritt gewählt wird. Das Timing der einzelnen Teile ist nicht glücklich. Doch gibt es auch hier intensive Momente: das Solo des Mannes mit der Rose etwa, der seine Elegie mit leichtfüßigen Variationen unterbricht, oder der Pas de deux zweier Gefährdeter, in dem erst er hinter ihr wie blind hergeht, dann sie in seinen Armen buchstäblich den Boden unter den Füßen verliert und im Leeren läuft. Zu sehen war bei dieser Premiere vor Totensonntag, dass das kleine Tanztheater in Münster nicht nur eine homogene und reife Kompanie ist – einige der zehn Tänzer sind schon von den Anfängen Goldins als freier Choreograph vor fast einem Jahrzehnt dabei –, sondern anscheinend auch auf dem Weg, sich von innen heraus zu erneuern. Mit dem doppelten Blick zurück und nach vorn.

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