Emma Goldmanns Hochzeit

Nürnberg, 05/11/2000

Am Beginn seiner dritten Spielzeit unter der Leitung der Stuttgarter Choreografin Daniela Kurz tanzt das Ballett des Theaters Nürnberg ohne Frage in der nationalen Spitzengruppe. Jedenfalls, was die etablierte Szene angeht. Allerdings ist das überregional noch nicht so richtig zur Kenntnis genommen worden. Mehr noch, abgesehen von William Forsythes Ballett Frankfurt und Pina Bauschs Wuppertaler Truppe, die von ganz anderem künstlerischen Zuschnitt sind, dürfte diese junge Equipe wohl die einfallsreichste und experimentierfreudigste der Republik sein. Mit ihren letzten beiden Produktionen „Eine Winterreise“ (an der neben Kurz sechs weitere Choreografen beteiligt waren) und „Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?“, jede von sehr eigenem, neuen Charakter, haben die Nürnberger denn auch erhebliches Aufsehen erregt. Die Folge: Im November wurde die „Winterreise“ mit dem begehrten „Bayerischen Theaterpreis“ ausgezeichnet, und im Dezember erhielt Kurz aus den Händen des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair den Staatlichen Förderpreis für junge Künstler 2000.

Dabei wird es vermutlich nicht bleiben. Denn das im November im Schauspielhaus uraufgeführte, jüngste Tanzstück von Daniela Kurz, „Emma Goldmanns Hochzeit“, diesmal gemeinsam mit dem Ensemble erdacht, ist mindestens so interessant und ungewöhnlich wie seine Vorgänger. Es handelt, ohne streng biografisch zu sein, von der lettischen Anarchistin Emma Goldmann (1869 – 1940), deren radikale Aktionen in Amerika, Russland und Europa, sie plante sogar politische Morde, ihr immense Schwierigkeiten einbrachten, vom Gefängnis bis zur Deportation, und die, obwohl sie für die Befreiung der Frau und die freie Liebe kämpfte, mindestens drei Mal, wenn nicht häufiger, verheiratet war.

Das Stück ist in zehn Szenen unterteilt, die für jede Vorstellung neu gemischt werden. Vor Beginn der Aufführung entscheidet das Publikum per Einwurf von Münzen in Kästen mit merkwürdigen Titeln wie „Rechtsministerium“ und „Rausschmiss“, mit welcher Szene der Abend beginnt, ohne dass es weiß, welcher Kasten welche Szene bedeutet. Die Tänzer wiegen die Kästen unmittelbar vor dem Beginn, der schwerste hat gewonnen, das Geld kommt einer karitativen Einrichtung zu.

Die Reihenfolge der Szenen richtet sich nach der jeweils als Erste gewählten. Unterstellt, dass an jedem Abend ein anderer Kasten der schwerste ist, kann ein eifriger Zuschauer gewissermaßen bis zu zehn unterschiedliche Blicke auf und in Emma Goldmann werfen.

Zu überwiegend avantgardistischer Klezmer-Musik vieler Komponisten entwirft Kurz eine Art von getanzten Gedanken über Emma Goldmann (Jessica Billeter), wie sie sich zunächst anderen anschließt und später, von diesen argwöhnisch beobachtet, eigene Wege geht, wie sie, und hier gewinnt der Tanz eine weitere Sprache, mit Stampfen, Klatschen und Schlägen auf den Körper ungemein eloquent argumentiert und Scharen von Menschen auf ihre Seite zieht.

Das Wissen und die Bildung, erworben und verwehrt, spielen in Form von Büchern eine wichtige Rolle. Sie sind Gefahr, Sicherheit, geistiges Asyl und Waffe, werden verbrannt und bereiten intellektuelles und sinnliches Vergnügen.

Kurzens Tanzsprache und Dramaturgie sind in diesem Stück sowohl weicher und geschmeidiger, wie auch entschiedener geworden, sie geben ihren Interpreten in vielen Szenen ausdrücklich Möglichkeiten zur Improvisation, die sie nach Herzenslust zu wilden Ausbrüchen bis zur totalen Erschöpfung nutzen. Das ist ganz und gar kein verbiestertes Agitationsstück, sondern ein Tanzbuch mit traurigen, heiteren und kämpferischen Bildern, auch Traumbildern, in dem bei jeder Aufführung neu geblättert wird. Stefan Morgenstern hat dafür eine weite Bühne mit nur einem herabhängenden Tuch und zwei asymmetrischen Spielflächen geschaffen, die lediglich durch die fahlfarbigen, absichtlich schlecht sitzenden Kostüme (Kurz und Morgenstern) und den Tanz koloriert wird.

Es scheint so, dass die Choreografin und das Ensemble ihre gemeinsame Heldin, der eindeutig ihre ganze Sympathie gehört, nicht erklären wollen, dem Publikum schon gar nicht, sondern zunächst nur Situationen und Umstände konstatieren, und sich dann sozusagen ihren eigenen Reim auf sie machen. Und zwar an jedem Abend einen neuen oder den gleichen, wie‘s beliebt. Die zahlreichen Szenen nur durch zeitliche und musikalische Eckpunkte begrenzter Improvisation machen das nicht nur möglich, sondern sogar zwingend.

Ist Emmas langwierige Prügelei mit einem Mann auf der Seitenbühne, während auf der Hauptfläche munter getollt wird, ihr Kampf gegen die verhassten Institutionen, gegen ihre Ehemänner oder gegen jene, die sie deportieren und gefangen nehmen? Ihr langes Duo mit einem Mann im weiten Flauschmantel – genießt sie dessen Wärme, oder wird sie von ihr erstickt? Kurz schildert aber auch die Widersprüche in Emmas Empfinden, ihre Verachtung für die Konventionen und ihre gleichzeitige Sehnsucht, an der Sicherheit teilzuhaben, die sie dem Individuum schenken. Ein kurzer, blendend getanzter Abend voller Überraschungen und Emotionen, der sicher zu den bemerkenswertesten Produktionen dieser Spielzeit gehört. Die Nürnberger aber bereiten schon ihren nächsten Streich vor: Am 10. Februar hat „Geflügeltes Gelb“ Premiere, ein weiterer Schritt auf Kurzens Weg der immer währenden Auseinandersetzung mit Farben, an dem „Gäste aus Bildender Kunst, Wissenschaft und Tanz“ mitwirken sollen.

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